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Neues aus der Forschung

Neue Erkenntnisse der Hirnforschung

Welche Rolle spielt das Claustrum bei der Entstehung von Bewusstsein?


Gehirn und Bewusstsein

Seit Jahrhunderten übt das Bewusstsein eine enorme Faszination auf die Menschheit aus, da es kein Phänomen gibt, das rätselhafter erscheint. Es ist naheliegend, dass Bewusstsein durch mentale Prozesse im Gehirn entsteht, denn unsere Erlebniswelt korreliert mit neuronalen Erregungsmustern. Doch es ist bis heute weder genau geklärt, wie bzw. durch welche Hirnaktivitäten bewusstes Erleben entsteht, noch, welche Hirnareale existieren müssen, damit wir Reize nicht nur mental verarbeiten, sondern sie auch als psychischen Akt verfügbar haben, sie also bewusst erleben (in Form von Schmerzempfindungen beispielsweise).

Titelbild: Das menschliche Hirn besteht aus zwei Hemisphären, die sich in Form und Funktion voneinander unterscheiden. Bildquelle: Gontzal Garcia del Caño (Euskalanato), Working Brain, CC BY-NC-SA 2.0.

In dem Bemühen, die Natur des menschlichen Bewusstseins zu verstehen, gelang den Neurowissenschaften jetzt möglicherweise eine bahnbrechende Entdeckung: Durch elektrische Stimulation einer bestimmten Region, des sogenannten Claustrums, ließ sich bei einer Epileptikerin das Bewusstsein gezielt aus- und wieder anschalten (KOUBEISSI et al. 2014). Francis CRICK und der Neurowissenschaftler Christof KOCH formulierten bereits vor Jahren die Hypothese, dass gerade diesem Teil des Gehirns bei der Entstehung bewussten Wahrnehmens eine Schlüsselrolle zukommen könnte (CRICK & KOCH 2005). Was hat das Claustrum mit der Entstehung von Bewusstsein zu tun, und warum ist der Befund wegweisend?

Damit wir über ein Bewusstsein verfügen, muss sich das Gehirn selbst Systemzustände in Form synchroner, neuronaler Schwingungen schaffen. Es muss also ein neuronales Schaltzentrum vorhanden sein, das die Informationen der verschiedenen Hirnareale "ordnet" und Koalitionen von Nervenzellen organisiert, die dazu gebracht werden, phasensynchron zu "feuern". Das Claustrum steht schon lange in Verdacht, ein solches neuronales Schaltzentrum zu sein. Es handelt sich dabei um eine dünne, im Zentrum des Gehirns liegende Schicht von Neuronen, die in beiden Hirnhemisphären unterhalb des Neocortexes vorkommt. Dort laufen die Informationen aus unterschiedlichen Regionen der Großhirnrinde zusammen, die uns verschiedene Sinneseindrücke vermitteln und andere Kognitionsleistungen erbringen. Es wird vermutet, dass das Claustrum die Informationen synchronisiert, ähnlich einem Dirigenten, der den Einsatz der verschiedenen Instrumentalgruppen in einem Orchester zeitlich ordnet, so dass eine harmonische Symphonie daraus entsteht. Die elektrischen Impulse werden so zu einem harmonischen "Weltbild" synorganisiert, wodurch, so die Vermutung, überhaupt erst bewusstes Erleben möglich wird.

Das Claustrum wäre demnach weit mehr als ein schlichter An-/Aus-Schalter für Bewusstsein. Vielmehr übernähme es aufgrund seiner Beschaffenheit eine aktive Rolle bei der Organisation des neuronalen Orchesters in unserem Kopf. Sollte diese Hypothese stimmen, dann müsste im Falle einer Störung der Informationsverarbeitung im Claustrum unser Bewusstsein schwinden. Eine Möglichkeit, diese Folgerung experimentell zu überprüfen, ergab sich in den letzten Jahren zwar nicht. Sollten sich aber die an der Epileptikerin gewonnenen Erkenntnisse erhärten, wäre diese Folgerung bestätigt - und damit auch die Hypothese hinsichtlich der Rolle, die dem Claustrum bei der Entstehung von Bewusstsein beigemessen wird. Dafür sind aber noch weitere Experimente nötig, denn eine Probandin reicht für derart weitreichende Schlüsse nicht aus - insbesondere, da der Frau Teile des Hypocampus zu fehlen scheinen. Deshalb ist die Interpretation der Ergebnisse noch umstritten.

Die Wissenschaftler gelangten eher zufällig zu dieser Entdeckung, als sie unterschiedliche Bereiche des Gehirns der Patientin durch feine Elektroden stimulierten, um das Zentrum der epileptischen Anfälle ausfindig zu machen. Sie bemerkten, dass die Frau das Bewusstsein genau in dem Moment verlor, als sie die Elektrode zwischen dem linksseitigen Claustrum und der anterior-dorsalen Insula platzierten und eine elektrische Spannung anlegten. Die Frau bewegte sich nicht mehr, reagierte nicht mehr auf Reize, und ihre Atmung verlangsamte sich. Nach Beenden der Elektrostimulation erwachte die Frau wieder und konnte sich an das Ereignis nicht erinnern. Interessanterweise war der Effekt reproduzierbar: Die Hirnregion der Probandin wurde über einen Zeitraum von zwei Tagen mehrmals elektrisch stimuliert, jedes Mal mit demselben Ergebnis. Die 54-Jährige musste während der Prozedur bestimmte Worte wiederholen oder komplexe Bewegungen ausführen. Während der Stimulation nahmen Sprechgeschwindigkeit und Lautstärke plötzlich ab und die Bewegungen wurden langsamer, bis das Bewusstsein schwand.

Die Erkenntnis, dass in einer konkreten Hirnregion die Voraussetzungen für ein bewusstes Erleben der Welt geschaffen werden, ist nicht ohne weltanschauliche Brisanz. Zwar geht die naturalistische Hirnforschung schon lange davon aus, dass "Bewusstsein" ein Epi-Phänomen materieller Prozesse ist; wie erwähnt gibt es starke Indizien dafür, wogegen der Annahme, das Bewusstsein existiere unabhängig vom Gehirn, jegliche Plausibilität fehlt.1) Allerdings wurde und wird diese Voraussetzung immer wieder durch Menschen und Philosophen mit religiöser oder immaterialistischer Weltanschauung in Frage gestellt. Sie behaupten, die Entstehung von Bewusstsein sei prinzipiell nicht zu erklären, ohne Anleihen an dubiose immaterielle oder übernatürliche Faktoren zu nehmen. Im Lichte des neuen Befunds erscheint dieses Dogma jedoch fraglicher denn je. Freilich erklärt er nicht, wie Bewusstsein entsteht. Aber die Lokalisierung im Claustrum wäre ein Schritt in diese Richtung, wenn es gelänge, den "neuronalen Schaltplan" dieser Hirnregion zu entschlüsseln.

Weitreichende Erkenntnisse ergäben sich damit auch für die Evolution des Bewusstseins: Anhand vergleichender Untersuchungen zwischen den Claustren verschiedener Säugetierarten und deren Erregungsmustern lässt sich prinzipiell ermitteln, wie und wann in der Evolution des Gehirns die Schwelle zum bewussten Erleben überschritten wurde. Auch erkenntnistheoretische und tier-ethische Fragen könnten durch diese Erkenntnisse in naher Zukunft beantwortet werden: Tiere, die kein Claustrum aufweisen, nehmen Schmerzen trotz Stresssyndrom und Abwehrreflexen vermutlich nicht bewusst wahr. Freilich wäre dies kein Freibrief, um Tiere zu quälen und zu töten, doch stellt sich beim Fleischverzehr unweigerlich die Frage, ob und inwieweit Tiere bei der Schlachtung unnötigem Leid ausgesetzt sind.

Literatur

CRICK, F.; Koch, C. (2005) What is the function of the claustrum? Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Sciences 360, 1271–1279.

KOUBEISSI, M.Z.; BARTOLOMEI, F.; BELTAGY, A.; PICARD, F. (2014) Electrical stimulation of a small brain area reversibly disrupts consciousness. Epilepsy & Behavior 37, 32–35.




Fußnoten

[1] Wer behauptet, das Bewusstsein existiere autonom (also unabhängig von materiellen Prozessen im Gehirn), müsste nicht nur erklären können, wie es dann kommt, dass die verschiedenen Bewusstseinszustände immer mit konkreten Hirnaktivitäten korrelieren. Er müsst auch eine plausible Antwort auf die Frage geben können, warum das Bewusstsein immer dann erlischt, sobald man in Narkose liegt. Wo ist das Bewusstsein in dieser Zeit? Außerdem müssten Mechanismen bekannt sein, die eine spezifische "Interaktion" zwischen dem vorgeblich autonomen Bewusstsein und dem Gehirn erklären. Solche Mechanismen sind völlig unbekannt. Deshalb ist der so genannte "Leib-Seele-Dualismus" nicht plausibel und war es in den Neurowissenschaften auch noch nie.

Autor: Martin Neukamm

Copyright: AG Evolutionsbiologie