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Neues aus der Forschung
Unsere haarigen Vettern
Neues
von der genetischen Verwandtschaft zwischen Mensch und Schimpanse
Die
Ermittlung von DNA-Sequenzen, eine Technologie, die 1965 von Frederick
SANGER entwickelt wurde, war bis in die 1990er Jahre eine
mühevolle Angelegenheit. Ende der 1980er Jahre fanden die
ersten Genbanken (seinerzeit noch auf Disketten!) Verbreitung, wobei
man erst viel später Vorstellungen über den
Evolutionsprozess auf DNA-Sequenzebene zu entwickeln begann. Schnell
wurde klar, dass sich DNA-Abschnitte und Sequenzpositionen, die
funktional sind, langsamer ändern als funktionslose Bereiche
("Junk-DNA"): Je wichtiger bzw. zentraler eine Funktion ist, umso
stärker ist der Selektionsdruck auf die kodierenden Sequenzen.
Das entsprach den theoretischen Erwartungen und stellte keine
Überraschung dar. Die Detailfragen blieben allerdings
zunächst offen, weil schlichtweg die Daten fehlten, daher
hatten wir keine Ahnung von der Dynamik komplexer Genome.
Die
"Post-Genomics-Ära"
Etwa ab dem Jahre 2000 lag genügend genomische
Sequenzinformation vor, um große Abschnitte der menschlichen
Erbinformation zu analysieren. In den Jahren 2000-2010 kamen weitere
Genome hinzu, die miteinander verglichen werden konnten. Ferner wurden
immer größere Bereiche des Genoms verschiedener
Menschen sequenziert, so dass auch verschiedenen Ethnien vergleichend
analysiert werden konnten. Durch die Fortschritte der Molekularen
Genetik wurden auch die molekularen Mechanismen der Vererbung und die
Gründe für genetische Stabilität und
Instabilität immer besser verstanden. Wie nicht anders zu
erwarten, stellt die Evolution auf Genomebene ein
äußerst komplexes und vielschichtiges Geschehen dar,
das wir mittlerweile im Ansatz einigermaßen gut verstehen.
Repeats, hot
spots, Mitochondriom, Y-Chromosom
In den Genomen der Säuger (und nicht nur dort) besteht ein
mehr oder weniger großer Teil (bei Säugern gut die
Hälfte!) (1) aus so genannten Repeats, also aus
Sequenzanteilen, die mehrfach wiederholt vorkommen (s. u., Abb.1).
Einige Repeats, wie die Zentromer-
und Telomer-Sequenzen, sind von großer Wichtigkeit
für die chromosomale Integrität: Telomere dienen dem
Schutz der Chromosomenenden, und die Zentromere spielen eine wichtige
Rolle bei der Verteilung der Chromosomen bei der Zellteilung (Mitose /
Meiose). Mittels der Zentromere "klinken" sich sozusagen die
Chromosomen in die Mitosespindel ein, so dass die Verteilung der
Chromosomen auf die Tochterzellen geregelt und geordnet erfolgen kann.
Einige der Repeats kodieren funktionale Produkte, z.B. liegen die Gene
für die rRNA oft repetitiv vor. Die meisten Repeats sind
allerdings nach heutigem Wissen funktionslos, sie werden oft als
"Junk-DNA" ("Müll") bezeichnet. Bei dieser Beurteilung muss
man allerdings vorsichtig sein: Die Evolution "weiß" nicht,
dass diese Sequenzen ursprünglich funktionslos waren, und was
in einem biologischen System vorhanden ist, unterliegt notwendigerweise
und automatisch der Selektion. Daher nimmt es nicht Wunder, dass auch
einige dieser Repeats vermutlich strukturelle Aufgaben besitzen
(genauer: mittlerweile übernommen haben). Allerdings
hängen diese Funktionen nicht so stark an einer definierten
Sequenz, so sich dass solche Repeats relativ schnell ändern:
Sie haben eine hohe Evolutionsgeschwindigkeit, was sich schon zwischen
verschiedenen menschlichen Ethnien oder sogar Individuen bemerkbar
macht.
Solche Repeats sind Bereiche mit
sehr hoher Mutationsfrequenz; die sog. STR-Klasse (Abb.1) mutiert mit
der Häufigkeit einiger
Promille pro Generation (!), einige
sind sogar derart instabil, dass sie kaum eine einzige Generation
lang
(!) unverändert bleiben. Die Mechanismen (helical slippage,
unequal crossover, um nur einmal die Fachbegriffe zu nennen, die hier
nicht im Detail erläutert werden können) sind bekannt.
TPOX-STR (GenBank
Acc.Nr. M68651)
Eine Sorte von Repeats sind
die sog. Tandem Repeats, das sind DNA-Elemente, die nicht im Genom
verstreut sind, sondern sich als (identische oder ähnliche)
Kopien unmittelbar aneinander anschließen. Die
Wiederholungseinheiten sind kurz (wenige Nukleotide oder sogar nur ein
einziges) oder länger: Einheiten von Hunderten von Basen
kommen vor. Kurze Einheiten - so wie das hier abgebildete GAAT-Repeat -
bezeichnet man als short tandem Repeats (kurz: STRs). Da solche STRs
bereits in der menschlichen Bevölkerung z. T. erheblich
variieren, werden sie für Abstammungsgutachten und forensische
Analysen benutzt (die Pfeile in der Abbildung bezeichnen
Primer-Bindestellen für forensische PCR-Analysen, was hier
nicht im Detail ausgeführt werden kann).
Abb.1: Beispiel
für einen menschlichen STR-Lokus.
Darüber hinaus gibt es
weitere Bereiche
und Stellen im Genom, die sich ebenfalls schneller ändern als
der
Durchschnitt, ohne dass die Gründe hierfür bekannt
wären; hier sind also noch spannende Forschungsergebnisse zu
erwarten.
"Mitochondriom" (oft
abgekürzt mit mtDNA)
nennt man die Erbinformation der Mitochondrien. Diese Zellorganellen
sind die "Kraftwerke" der Zellen, sie produzieren den
Löwenanteil
der zellulären Energie (in Form von ATP)
hauptsächlich durch
Verbrennung von Lipiden und Kohlenhydraten (genau genommen von
Reduktionsäquivalenten, das sind sozusagen "gebundene,
transportable Wasserstoffatome"). Mitochondrien - darauf deutet eine
Vielzahl voneinander unabhängiger Fakten hin - sind aus
ehemals
frei lebenden Bakterien hervorgegangen, die vor gut einer Milliarde
Jahren eine Symbiose mit einer Ur-Eukaryontenzelle eingingen. Das
genetische System der Mitochondrien ist im Vergleich zum Zellkern
simpler und weniger leistungsstark; die Mitochondrien rekombinieren
(fast) nie und werden bei höheren Säugern (fast)
immer
über die Mutter vererbt. Aus diesen Gründen evolviert
die
mtDNA sehr viel schneller als das Genom des Zellkerns - so schnell,
dass man anhand der Unterschiede in der mtDNA verschiedener Ethnien die
Wanderungsbewegungen der frühen Menschheit rekonstruieren
konnte
(Stichwort "mitochondriale Eva"). Wie nicht anders zu erwarten ist die
menschliche mtDNA wegen der hohen Mutationsraten von der
Schimpansen-mtDNA deutlich verschiedener als es die Genome des
Zellkerns sind.
Auch das Y-Chromosom - dasjenige
Geschlechtschromosom, welches "den Mann zum Manne" macht - unterliegt
einem besonderen Vererbungsmodus: Während Frauen mit XX
über
zwei gleiche Geschlechtschromosomen verfügen, tragen
Männer
die Kombination XY, wobei beide Chromosomen einander ziemlich
unähnlich sind (Y ist auch wesentlich kleiner). Das bedeutet
ferner, dass das Chromosom stets vom Vater an die Söhne
vererbt
wird und dass Y-Chromosomen nicht rekombinieren können, weil
sie
(fast) immer alleine auftreten.
Dies hat erhebliche Auswirkungen
auf die
evolutive Entwicklung: Y-Chromosomen (das der Säuger entstand
vor
einigen 100 Mio. Jahren durch Modifikation eines X-Autosoms) verlieren
Zug um Zug die meisten ihrer Gene und erfahren dann am Ende auf dem
größten Teil ihrer Sequenz keinen Selektionsdruck
mehr (vgl. CHARLESWORTH/CHARLESWORTH 2000; eine Übersicht
findet sich
unter de.wikipedia.org/wiki/Y-Chromosom).
(2) Hinzu kommt, dass
Männer wegen der lebenslang anhaltenden Spermienbildung etwa
doppelt so viele Mutationen an ihre Nachkommen vererben wie Frauen.
Deshalb und weil das Y-Chromosom allein in der Linie
männlicher
Nachkommen vererbt wird, evolviert es deutlich schneller. Beides sind
Gründe dafür, dass sich auf Y-Chromosomen repetitive
Sequenzen in oftmals wesentlich höherer Dichte als auf den
Nicht-Geschlechtschromosomen (den Autosomen) ansammeln. Daher sind auch
bereits innerhalb der menschlichen Bevölkerung die
Unterschiede
zwischen den Y-Chromosomen größer als zwischen den
Autosomen. In der Tat zeigten KURODA-KAWAGUCHI et al. (2001), dass bei
unfruchtbaren Männern eine bestimmte Art von Deletion auf dem
Y-Chromosom oftmals und unabhängig voneinander vorkommt: Ein
klarer Hinweis (mittlerweile einer von vielen) auf die vergleichsweise
hohe Instabilität des Y-Chromosoms.
Weitere Daten kamen hinzu, als
SKALETSKY et al.
(2003) eine detaillierte Studie des menschlichen Y-Chromosoms
vorlegten: Sie zeigten, dass - den Erwartungen durchaus entsprechend -
das menschliche Y eine sehr hohe Repeat-Dichte aufweist und innerhalb
der letzten 4 Mio. Jahre durch Translokation X-Sequenzen inkorporiert
hat, dass also im Laufe der menschlichen Evolution Bereiche des
X-Geschlechtschromosoms auf Y kopiert wurden.
Das
Y-Chromosom von Mensch und Schimpanse im Vergleich
Weil Y-Chromosomen gerade wegen der hohen Repeat-Dichte technisch
schwer zu sequenzieren sind (genauer: die gewonnene Sequenzdaten sind
schwerer zu assemblieren, d.h. "zusammenzupuzzeln", weil
große
Bereiche in vielfacher Wiederholung, als Repeats, vorliegen), lagen
bisher außer vom Menschen nur wenig Y-Sequenzdaten von
anderen
Säugern vor. Zwar ist durch Analyse des menschlichen Genoms
z.B.
erkennbar, welche Chromosomen-Anteile (und damit welche Gene) von X auf
Y übertragen wurden (s. o.), aber es war unklar, ob die
Evolution
des menschlichen Y vielleicht besonders "stürmisch" oder trotz
der
massiven Umbauten doch noch im Relation zu anderen Säugern
vergleichsweise ruhig verlaufen ist: Die extrem hohe Dichte an Repeats
ist mit Sicherheit ganz wesentlich für die
evolutionäre
Instabilität verantwortlich - aber in welchem
Ausmaß, das
war noch die Frage (vgl. Abb.2).
Eine erste Antwort lieferte vor kurzem eine Arbeit von HUGHES et al.
(2010), in der fast die komplette Sequenz des Schimpansen-Y-Chromosoms
vorgelegt und ein umfassender Vergleich durchgeführt wurde.
Der
prinzipielle Aufbau des Y-Chromosoms der Schimpansen entspricht wie
erwartet dem des Menschen, auch die vertretenen Sequenzklassen sind
dieselben (allerdings sind manche Familien auf Mensch oder Schimpanse
beschränkt). Ferner lassen sich auf dem menschlichen
Y-Chromosom
Bereiche nachweisen, die (beurteilt nach ihrer
Sequenzähnlichkeit)
innerhalb der letzten 4 Millionen Jahren vom (vor-) menschlichen
X-Chromosom auf das Y-Chromosom übertragen wurde - also zu
einer
Zeit, als die menschliche Abstammungslinie schon von der
Schimpansenlinie getrennt hat. Diese Bereiche treten
erwartungsgemäß auf dem Schimpansen-Y nicht auf.
Ebenfalls
zu vermuten war, dass insbesondere die repetitiven Abschnitte (Repeats,
"ampliconic sequences") schneller evolvieren als die nicht-repetitiven.
Sequenz-Zuwachs und -Verlust sowie Umstrukturierungen durch
Translokation und Inversion (3) sind in großem
Ausmaß
über das gesamte Y-Chromosom zu beobachten. Auch dies war
nicht
unvermutet, haben doch schon REPPING et al. (2006) gezeigt, dass das
menschliche Y-Chromosom innerhalb der letzen 100.000
Jahre in
verschiedenen Ethnien ganz
erhebliche Änderungen erfahren hat
(eben solche Transpositionen, Translokationen und Inversionen). Es war
dann für HUGHES et al. aber nochmals beeindruckend zu sehen,
wie
instabil die Y-Chromosomen im Vergleich zwischen Mensch und Schimpanse
tatsächlich sind. Diese Ergebnisse werden zu einer
Weiterentwicklung der Theorie der Geschlechtschromosomen-Evoluton
führen. In Zukunft werden sicherlich weitere
Säuger-Y-Chromosomen komplett sequenziert und verglichen
werden;
insbesondere die Rolle repetitiver Sequenzen für chromosomale
Umstrukturierungsprozesse wird man dann besser verstehen und
beschreiben können (Abb.2). HUGHES et al. haben erste
Einblicke in
dafür verantwortlichen die molekularen Mechanismen gewonnen,
was
den Rahmen einer News allerdings sprengen würde.
Abb.2: Beispiel
für Genverlust durch "unequal crossover". Quelle: ncbi.nlm.nih.gov/bookshelf/br.fcgi?book=hmg&part=A2004
Die Geschichte Y-chromosomaler
Veränderungen ist zu komplex, um sie in Kürze
darzustellen, daher hier ein Beispiel von einem Autosom:
"Thalassämien" sind Erbkrankheiten, die auf Genverlust von
HämoglobinGenen beruhen. Das menschliche Chromosom 16
trägt zwei intakte Kopien sowie eine defekte Kopie Psi der
Alpha-Kette. Größere Bereiche sind einander
hochgradig ähnlich (graue Balken), so dass bei der
Keimzellbildung (Meiose) zu einem fehlerhaften Austausch zwischen den
elterlichen Chromosomen kommen kann, zum ungleichen
Stückaustausch ("unequal crossover"). Dadurch gehen
chromosomale Bereiche verloren oder werden verdoppelt (s. Abbildung);
wenn die repetitiven Bereiche auf verschiedenen Chromosomen liegen,
kann es zu Stückaustauschen zwischen verschiedenen Chromosomen
kommen (WEATHERALL et al. 1995). Derartige Mutationen auf Autosomen,
also auf den "normalen Chromosomen", haben fast immer mehr oder weniger
große Auswirkungen. Da das Y-Chromosom weitgehend "genleer"
ist und einen sehr hohen Repeat-Anteil aufweist, kommen solche
Umstrukturierungen auf Y sehr viel häufiger vor, werden dabei
aber nur selten bemerkt, weil sie sich meist nicht auswirken.
... Und was
macht Wort und Wissen
daraus?
Unter dem Titel "Neue Daten zum Y-Chromosom des Schimpansen" hat Wort
und Wissen (W+W) eine News verfasst (BINDER 2010), in der es
heißt:
"Nach
gängigen Vorstellungen haben sich die Entwicklungslinien
von Mensch und Schimpansen von einem hypothetischen gemeinsamen
Vorfahren vor ca. 6 Millionen Jahren getrennt. Bisherige
Genomvergleiche mit geringen Unterschieden (ca. 2 %) scheinen dies zu
bestätigen. Die jetzt bei Y-Chromosomen dokumentierten
Unterschiede entsprechen dagegen einer unabhängigen
Entwicklung seit ca. 310 Millionen Jahren."
Das ist, so wie es dasteht, völlig falsch. Erstens evolviert
aus oben genannten Gründen sowohl die mtDNA als auch das
Y-Chromosom schneller als der Rest des Genoms, was sich bereits innerhalb der
menschlichen Population zeigen lässt. Also sind
erheblich größere Unterschiede in beiden
Fällen zu
erwarten und nicht, wie BINDER suggeriert, überraschend
und unverständlich.
Zweitens würden, wenn man tatsächlich so rechnete,
die Evolutionsraten vollkommen unterschiedlicher Mutationstypen in
einen Topf geworfen. Drittens hat W+W die Zeile in der Publikation in
grob irreführender Weise übersetzt. Wörtlich
steht in der Publikation das Folgende:
"we found
that the degree of
similarity between orthologous chimpanzee and human MSY sequences
(98.3% nucleotide identity) differs only modestly from that reported
when comparing the rest of the chimpanzee and human genomes (98.8%)
(...) Indeed, at 6 million years of separation, the difference in MSY
gene content in chimpanzee and human is more comparable to the
difference in autosomal gene content in chicken and human, at
310million years of separation"
Die korrekte Übertragung ins
Deutsche im Kontext und vor dem Hintergrund der in der Publikation
vorgelegten Ergebnisse müsste demnach lauten: "Nach 6 Mio.
Jahren der Trennung zwischen Mensch und Schimpanse haben die besonderen
genetischen Verhältnisse in den Y-Chromosomen für
Unterschiede in Struktur und Geninhalt gesorgt, wie sie bei
Wirbeltieren in genomischer DNA ansonsten erst nach gut 300 Mio. Jahren
auftreten. Dabei liegt der Grad der Sequenzdivergenz alignierbarer
single-copy Gene wie erwartet in derselben
Größenordnung wie bei Autosomen." (4)
BINDER weiter:
"Die
heute bekannten DNA-Sequenzen von Mensch und Schimpansen verlangen
eine sehr differenzierte Erklärung und unterstützen
nicht einfach ein etabliertes Bild von der gemeinsamen Abstammung von
einem gemeinsamen Vorfahren. (…) Die
mittlerweile
ermittelten Daten von Y-Chromosomen sperren sich somit gegen eine
Vereinnahmung für eine klassische Vorstellung der Abstammung
von Mensch und Schimpanse von einem hypothetischen gemeinsamen
Vorfahren. Die gravierenden Unterschiede in der Struktur des
Y-Chromosoms werfen neue Fragen nach deren Ursprung auf; die bekannten
und üblicherweise angenommenen Mechanismen würden
eine deutlichere Ähnlichkeit erwarten lassen."
Selbst wenn
manche Autoren eine geringere Abweichung der Y-Chromosomen erwartet
haben mögen, so ist doch diese Aussage frei erfunden und dem
Text nirgends zu entnehmen, im Gegenteil. Bedauerlicherweise ist dies
(wieder einmal) ein Beispiel für die kreationistische Technik,
einen wissenschaftlichen Text "zu lesen wie der Teufel die Bibel"
(skandinavisches Sprichwort) und, wenn das noch nicht reicht, Dinge
hineinzulesen, die gar nicht drin stehen. Falls Wort und Wissen von
der
Fachwelt ernst genommen werden möchte, sollte die Vereinigung
künftig besser auf diese Technik verzichten.
Fazit
Evolution ist ein vielschichtiges und extrem komplexes Geschehen.
Selbst wenn nur eine einzige Ebene (hier: die genetische) betrachtet
wird, sind die Vorgänge ungeheuer kompliziert.
Verschiedenen Mutationsarten wie Mikromutationen (Basenaustausche,
kleine Deletionen oder Insertionen) und Mutationen auf chromosomaler
Ebene (Translokation, Deletion, Insertion größerer
Bereiche etc.) finden mit unterschiedlicher Häufigkeit statt.
Hinzu kommt, dass aufgrund unterschiedlicher Mutationsmechanismen
manche Sequenzklassen (methylierte CG-Dinukleotide, Repeats) sehr viel
schneller mutieren als andere. Ferner ist der Modus der Vererbung ein
wichtiger Punkt, der über das evolutionäre Schicksal
entscheidet: mitochondriale DNA (mtDNA) und das Y-Chromosom
können bei der sexuellen Fortpflanzung (meiotische Bildung der
Keimzellen) nicht rekombinieren, was u. a. auf die Häufigkeit
von Genverlusten beeinflusst. Hinzu kommt bei der mtDNA ein ungenauer
arbeitendes DNA-Reparatursystem. Schließlich sind die
Gendichte sowie der Selektionsdruck Faktoren, die das evolutive
Schicksal eines Chromosoms mit bestimmen: je geringer der Einfluss
beider Faktoren, desto weniger fallen chromosomale Mutationen ins
Gewicht und umso stärker wird die chromosomale Struktur
evolutiv variieren.
Im Rahmen einer Untersuchung von HUGHES et al (2010) wurden die
Y-Chromosomen von Mensch und Schimpanse miteinander verglichen. Es
zeigt sich aus den oben angeführten Gründen, dass die
genetischen Unterschiede sehr viel größer sind als
im Rest der Kerngenome. Wie nicht anders zu erwarten, zeigen hingegen
Y-chromosomale Gene, die wichtige Funktionen (Spermienreifung,
Geschlechtsbestimmung) erfüllen trotz der
beträchtlichen Unterschiede der chromosomalen Y-Strukturen
denselben hohen Ähnlichkeitsgrad wie die "normalen"
Chromosomen, die Autosomen.
Die kreationistische Studiengemeinschaft Wort und Wissen
behauptet,
dass die großen strukturellen Unterschiede der Y-Chromosomen
die enge Verwandtschaft von Mensch und Schimpanse wieder in Frage
stelle. Dieser Schluss kann allerdings nur unter Missachtung der
genetischen Grundlagen und Zusammenhänge gezogen werden und
vor allem dadurch, dass in die Veröffentlichung von HUGHES et
al (2010) Aussagen hinein gelesen werden, die in dieser Arbeit
definitiv nicht drin stehen.
Literatur
BINDER, H. (2010) Wie ähnlich sind Mensch und Schimpanse? Neue
Daten zum Y-Chromosom des Schimpansen. News der kreationistischen
Plattform Genesisnet,
www.genesisnet.info/index.php?News=147.
CHARLESWORTH, B.; CHARLESWORTH. D. (2000) The degeneration of Y
chromosomes. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci. 355(1403),
1563-1572. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1692900/?tool=pubmed;
www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1692900/pdf/11127901.pdf
HUGHES, J.F.; SKALETSKY, H.; PYNTIKOVA, T. et al. (2010) Chimpanzee and
human Y chromosomes are remarkably divergent in structure and gene
content. Nature 463(7280), 536-539.
KURODA-KAWAGUCHI, T.; SKALETSKY, H. et al. (2001) The AZFc region of
the Y chromosome features massive palindromes and uniform recurrent
deletions in infertile men. Nature Genet. 29, 279-286.
REPPING, S.; VAN DAALEN, S.K.; BROWN, L.G. et al. (2006) High mutation
rates have driven extensive structural polymorphism among human Y
chromosomes. Nat Genet. 38(4), 463-467.
SKALETSKY, H.; KURODA-KAWAGUCHI, T. et al. (2003) The male-specific
region of the human Y chromosome is a mosaic of discrete sequence
classes. Nature 423, 825-837.
Weitere
Literatur zum Thema
CHEUNG, J.; WILSON, M.D.; ZHANG, J.; KHAJA et al. (2003) Recent
segmental and gene duplications in the mouse genome. Genome Biol. 4(8),
R47. www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC193640.
HASTINGS, P.J.; LUPSKI, J.R.; ROSENBERG, S.M.; IRA, G. (2009)
Mechanisms of change in gene copy number. Nature Reviews Genetics 10,
551-564.
PARNIEWSKI, P.; STACZEK, P. (2002) Molecular Mechanisms of TRS
Instability. www.ncbi.nlm.nih.gov/bookshelf/br.fcgi?book=eurekah&part=A13297
Abschnitt des Internet-Lehrbuchs "Gene
Expression", www.ncbi.nlm.nih.gov/bookshelf/br.fcgi?book=eurekah&part=part31.xml.
STRACHAN, T.; READ, A.P. (1999, Hg.) Human Molecukar Genetics 2.
Garland Science. Internet-Version: www.ncbi.nlm.nih.gov/bookshelf/br.fcgi?book=hmg.
WOLFE, J. (2006) Sex Determination. Internet-Lecture, Biology of
Development course BiolB250, London's global university.
www.ucl.ac.uk/~ucbhjow/b250/sex_determination.html.
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Fußnoten
(1) Die genaue Zahl ist schwer zu ermitteln. Insbesondere bei Repeats,
die über das Genom verstreut sind, gilt: je mehr Zeit
vergangen
ist seit die betreffenden Kopien auseinander hervorgegangen sind, desto
unähnlicher sind sie sich geworden. Daher wird man bei weitem
nicht alle repetitiven Sequenzen als solche erkennen können,
was
hier nicht weiter vertieft werden kann.
(2) Inzwischen kennen wir etliche Beispiele für
ältere, aber
auch für erst wenige Millionen Jahre alte Y-Chromosomen in
verschiedenen biologischen Arten. All diese Y-Chromosomen neigen
grundsätzlich zum Genverlust und zur Degeneration. Diese
Arbeit
bietet einen Überblick über den Stand der Forschung
und die
Modelle, welche zur Beschreibung und Erklärung des Genverlusts
mittlerweile erarbeitet sind. [Übersichtsartikel].
(3) Translokation:
verschieben, Inversion:
verdrehen, Deletion:
entfernen, Duplikation:
verdoppeln kleinerer oder größerer Abschnitte eines
Chromosoms.
(4) Konkret: Punktmutationen (Basenaustausche) geschehen
häufiger
als kleinere Deletionen oder Insertionen, und diese wiederum weitaus
häufiger als große chromosomale Umstellungen
(Translokationen oder Inversionen großer Abschnitte). Wenn
man
solche Mutationsraten zur Bestimmung verwandtschaftlicher
Verhältnisse heran zieht, muss man selbstverständlich
alle Typen separat betrachten und die Mutationsraten auch separat
eichen. Das ist z.B. möglich, indem man die unterschiedlichen
Raten innerhalb der heutigen menschlichen Bevölkerung bestimmt
und
dann - mit der gebotenen Vorsicht - extrapoliert. Das Vermengen dieser
verschiedenen Raten im Rahmen einer bioinformatisch-statistischen
Analyse ist eine mathematische Todsünde.
Autor:
Andreas Beyer
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
11.05.2010
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