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Michael
Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären
Humanismus.
Zweite, korrigierte und erweiterte Auflage, Alibri, Aschaffenburg 2006,
196 Seiten, 10.- , ISBN 3-86569-011-4
Der Begriff "Manifest" weckt politische
Assoziationen. Aber es geht dem religionskritischen Philosophen, Romanautor,
Komponisten und Musiker Dr. Schmidt-Salomon (www.schmidt-salomon.de) um die
Grundpositionen einer zeitgemäßen Aufklärung im Rahmen einer
säkularisierten Weltanschauung: "Nichts enttarnt die Irrtümer der
althergebrachten Welterklärungsmodelle schonungsloser als die
wissenschaftliche Erhellung der realen Sachverhalte
Wer heute ein
logisch konsistentes, also widerspruchsfreies Menschen- und Weltbild schaffen
möchte, das mit unseren empirischen Erkenntnissen übereinstimmt
und ethisch tragbar ist, muss auf die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung
zurückgreifen." Das tut Salomon. Er betrachtet die traditionellen Religionen
und andere metaphysische Heilserwartungen als obsolet, denn "keine der
bestehenden Religionen ist mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung
in Einklang zu bringen
ihre Aussagen sind nicht nur hinreichend
theoretisch widerlegt, sondern haben sich auch in der Praxis als schlechte
Ratgeber erwiesen."
Nach Sigmund Freud muss die Menschheit drei fundamentale Kränkungen
erdulden: die Kopernikanische, die Darwinsche und die tiefenpsychologische
Kränkung, dass wir nicht der "Herr im eigenen Haus sind", als der wir
uns fühlen. Salomon erweitert die Liste: Er führt uns die
epistemologische Kränkung vor Augen, dass unser Erkenntnisvermögen
beschränkt und nicht auf die "Wirklichkeit an sich" ausgerichtet ist.
Soziobiologisch kränkt uns, dass selbst den höchsten altruistischen
Tugenden genetisch-memetischer Egoismus zugrunde liegt. Dass tradierte Ideale,
Religionen und Künste nicht zeitlos gültig sind, zeigt die
kulturrelativistische Kränkung. Kosmologisch-eschatologisch kränkt
die Einsicht, dass Leben in unserem Universum ein zeitlich begrenztes
Phänomen ist, und evolutionär, dass wir unsere Existenz einem
fortschrittsblinden Zickzackweg auf dem schmalen Grat des Lebens verdanken.
Die Neurobiologie schließlich kränkt uns mit der Erkenntnis, dass
unser Geist auf Körperlichem beruht, dass selbst seine höchsten
Tätigkeiten von der Funktion biologischer Organe abhängen und die
subjektiv erlebte Willensfreiheit streng gesehen eine Illusion ist (so wie
das Ich ein fiktives Konstrukt unseres Gehirns).
"Wer sich auf Wissenschaft, Philosophie und Kunst berufen kann, weiß,
dass den Religionen weit bessere weltliche Alternativen gegenüberstehen
Die besondere kulturelle Bedeutung der Kunst liegt darin, dass sie
Lebenssinn sinnlich erfahrbar macht." Weit entfernt von postmodernem
Beliebigkeitsdenken und dogmatischem Fundamentalismus macht Salomons
lebensbejahende, humane Alternative deutlich, dass das Leben unendlich viel
zu bieten hat: "In einem an sich sinnleeren Universum genießt der Mensch
das Privileg, den Sinn des Lebens aus seinem Leben selbst zu schöpfen."
Mit der Annahme, dass "alles mit rechten Dingen zugeht", vertritt Salomon
ein dezidiert naturalistisches Weltbild - wohl wissend, dass es schwierig
ist, Menschen mittels logischer Argumente von der Unhaltbarkeit irrationaler
Annahmen zu überzeugen, die sie nicht durch logische Argumente gefunden
haben. Es sei unerlässlich, alle Traditionen einem
wissenschaftlich-kritischen Eignungstest zu unterziehen. Denn im Gegensatz
zu irrationalen Überzeugungssystemen ist der rationale Glaube an die
Verlässlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse wohl begründet
und nicht mit Wissenschaftsgläubigkeit oder Scientismus zu verwechseln.
"Sollte es sich wider Erwarten herausstellen, dass Horoskope, Kaffeesatzlesen
oder Beten verlässlichere Einsichten vermitteln, wären diese der
Methode der Wissenschaft vorzuziehen."
"Wissenschaft kann die Wirklichkeit zwar beschreiben, aber sie kann nicht
vorschreiben, wie sie idealer Weise aussehen sollte." Wie sollte sie also
sein? Abgesehen von dem "unaufkündbaren ethischen Imperativ, zu einer
Humanisierung der Lebensverhältnisse beizutragen - wobei auch
nichtmenschliche Lebewesen angemessen zu berücksichtigen sind" - akzeptiert
nach Salomon der Evolutionäre Humanismus weder absolute Moral, noch
absolute Wahrheit, noch absolute Autorität. Wer die biblischen "Zehn
Gebote" als Richtschnur ethischen Verhaltens anpreist, kenne sie wohl kaum
im Wortlaut. Wer wisse schon, dass im 10. Gebot Frauen mit Sklaven, Tieren
und sonstigen Besitztümern in eine Reihe gestellt werden? Oder dass
Jahwe wenige Verse nach "Du sollst nicht morden" präzisierende Anweisungen
gibt: "Eine Hexe sollst du nicht am Leben lassen. Jeder, der mit einem Tier
verkehrt, soll mit dem Tod bestraft werden. Wer einer Gottheit außer
Jahwe Schlachtopfer darbringt, an dem soll die Vernichtungsweihe vollstreckt
werden." Angeprangert wird auch die "Endlösung der Ungläubigenfrage"
in der "Hölle", deren reale Existenz von vielen christlichen und
moslemischen Fundamentalisten nicht bezweifelt wird. Fernöstliche Religionen
seien nicht besser. So sorgte der hinduistische Vielgötter-Glaube über
Jahrhunderte hin für ein dogmatisch zementiertes Herrschaftssystem,
das mit dem Kastenprinzip Abermillionen von Menschen per Geburt jegliche
Chancen zu sozialem Aufstieg verwehrte.
In seiner schonungslos-kritischen Analyse lehnt Salomon auch die
aufklärerisch gezähmte "Light Version" des religiösen Glaubens
als falsche Toleranz ab, denn sie kaschiere den radikalen Gegensatz zwischen
weltlichem und religiösem Denken mittels intellektuell unredlicher Umdeutung
der traditionellen Glaubenssätze. In den Quellentexten der Weltreligionen
finde man kein globales Weltethos. Sie stünden "aus heutiger Sicht
weit unter dem ethischen Mindeststandard jeder halbwegs zivilisierten
Gesellschaft." Was sei von Allah zu halten, der allen, die im "Heiligen Krieg"
fallen, also auch den heutigen Selbstmord-Attentätern, verspricht, als
Märtyrer ins Paradies einzugehen?
Die heute anerkannten Menschenrechte mussten im Zuge der Säkularisierung
dem herrschenden Christentum in erbitterten Machtkämpfen Stück
für Stück abgerungen werden. Pius IX, 2000 von Johannes Paul II.
selig gesprochen, verdammte in seinem Syllabus nahezu alle Errungenschaften
der Moderne: Rationalismus, Naturalismus, Liberalismus, Demokratie, Trennung
von Staat und Kirche. Dass der Vatikan bis heute die Europäische
Menschenrechtskonvention nicht ratifiziert hat, ist wohl nur wenigen bekannt.
"Ohne einen Prozess weltweiter religiöser Abrüstung wird ein
friedliches Zusammenleben der Menschen kaum möglich sein." Und immerhin
seien in Deutschland seit 2003 die Konfessionslosen mit knapp 32% die
größte gesellschaftliche Gruppierung, gefolgt von den Katholiken
und Protestanten mit jeweils 31,3%. In den USA zählten 93% der
Spitzenwissenschaftler -Mitglieder der National Academy of Sciences - als
religionsfrei. In der Tat: Wie anders sähe die Welt heute aus, hätten
sich Aufklärer wie Al-Razi, vor über 1100 Jahren in der muslimischen
Kultur aufgewachsen, politisch durchsetzen können! Er hielt alle Menschen
von Natur aus für gleich, setzte auf Vernunft und wissenschaftlichen
Fortschritt und warf den religiösen Propheten vor, Lügen zu verbreiten
und die Massen zu verdummen.
In bewusster Nachfolge von Epikur, Aristoteles und Julian Huxley formuliert
Salomon die anthropologischen Grundlagen eines Evolutionären Humanismus,
der "für eine zeitgemäße, aufgeklärte Sicht der Dinge
taugt". Er präsentiert eine kompromisslose Analyse, die den neusten
Stand der Hirnforschung, der Psychologie und der Soziobiologie
berücksichtigt. "Das biologische "Prinzip Eigennutz" empfiehlt eine
heimtückische Strategie: Sei kooperativ gegenüber höher- oder
gleichrangigen, aber beute alle aus, die nicht über Macht und Einfluss
verfügen!" Dennoch sei es aus biologischer Sicht "für das Individuum
ein Selektionsvorteil, sich kooperativ nach dem Fairnessprinzip ("Wie du
mir, so ich dir") zu verhalten
Auch die Fähigkeit, mitleiden
zu können, ist ein Produkt eigennütziger evolutionärer
Überlebensstrategie."
Als Realist geht Salomon davon aus, dass Ideen, die mit den genetisch fixierten,
eigennützigen Interessen der Menschen nicht korrespondieren, sich nicht
durchsetzen können, so idealistisch wohl begründet sie auch sein
mögen. Es gehe also darum, den angeborenen Altruismus in den Dienst
der Humanität zu stellen. Salomon propagiert eine Ethik, "die unweigerlich
auftretenden Interessenkonflikte so zu lösen, dass alle Betroffenen
diese Lösung als möglichst fair erachten", denn "der für den
Moralismus unverzichtbare Körper-Geist-Dualismus ist eine empirisch
widerlegte Fiktion."
Das Buch enthält wertvolle Gedanken für einen neutralen
Ethik-Unterricht im Rahmen einer Leitkultur, auf deren Grundwerte sich alle
Menschen einigen könnten. Salomon ersetzt die biblischen Gebote
antiautoritär mit "Zehn Angeboten": wohl begründeten, ethischen
Richtlinien für das 21. Jahrhundert, die er von den universell
gültigen Wertkonstrukten Freiheit und Gleichberechtigung ableitet. Als
Fazit seien sie (verkürzt) zitiert, fordern doch vier von ihnen zu
skeptischem Denken auf:
1. Diene weder fremden noch heimischen "Göttern"
sondern dem
großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern.
2. Verhalte dich fair gegenüber
allen Menschen
respektiere
das Recht, ihre individuellen Vorstellungen von "gutem Leben (und Sterben)
im Diesseits" zu verwirklichen, sofern sie dadurch nicht gegen die
gleichberechtigten Interessen Anderer verstoßen.
3. Habe keine Angst vor Autoritäten, sondern den Mut, dich deines eigenen
Verstandes zu bedienen.
4. Du sollst nicht lügen, betrügen, stehlen, töten - es sei
denn, es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten, die Ideale des
Humanismus durchzusetzen.
5. Befreie dich von der Unart des Moralisierens! Es gibt in der Welt nicht
"das Gute" und "das Böse".
6. Immunisiere dich nicht gegen Kritik
Durch Kritik hast du nicht
mehr zu verlieren als deine Irrtümer.
7.
Sei jederzeit offen für bessere Argumente
Was uns heute
als richtig erscheint, kann schon morgen überholt sein.
8. Überwinde die Neigung zur Traditionsblindheit, indem du dich
gründlich nach allen Seiten hin informierst, bevor du eine Entscheidung
triffst.
9. Genieße dein Leben
(carpe diem)! Gerade die Endlichkeit des
individuellen Lebens macht es so ungeheuer kostbar!
Indem du die Freiheit
genießt, die du heute besitzt, ehrst du jene, die in der Vergangenheit
im Kampf für diese Freiheiten ihr Leben gelassen haben.
10. Stelle dein Leben in den Dienst einer "größeren Sache", (um)
die Welt zu einem besseren, lebenswerteren Ort (zu) machen
Altruisten
(sind) die cleveren Egoisten
Du wirst intuitiv spüren, dass du
nicht
umsonst gelebt haben wirst.
Leider stößt Salomon mit diesem kämpferischen, kompromisslosen
"Jugendwerk" durch seine oft schrille, aggressive und einseitig pauschalierende
Religionskritik potenzielle Weggefährten vor den Kopf, statt sie für
seinen programmatischen Entwurf zu gewinnen. Ob man das einer Streitschrift
wie dieser nachsehen sollte, muss der Leser selbst entscheiden. Sicherlich
mangelt es an Toleranz gegenüber anders Denkenden, und manche Vorstellungen,
die religiösen Menschen mit humanistischer Ethik als heilig gelten,
werden erbarmungslos lächerlich gemacht. Dabei würden viele liberale
Vertreter religiöser Weltdeutungen sich mit seinen "10 Angeboten"
solidarisch erklären, war er doch nicht der erste, der sich mit den
mosaischen Geboten anlegte. So entwickelte der ehemalige Pastor Dr. theol.
Paul Schulz ("Ist Gott eine mathematische Formel? Rowohlt 1977), der 1978
von seiner Amtskirche geschasst wurde, zusammen mit seinen Konfirmanden in
Hamburg liberale Alternativen, die sich in vielen Bereichen mit denen Salomons
decken. Statt "Du sollst Vater und Mutter ehren" formulierte er weise: "
sollst du dich als Vater oder Mutter so verhalten, dass deine Kinder dich
lieben können." Auch Joachim Kahl formuliert in seinem Buch "Weltlicher
Humanismus" (LIT 2006) bedenkenswerte humanistische Alternativen zu den 10
Geboten, von denen sich allerdings keines dem kritischen Denken widmet.
Dr.
habil. Rainer Wolf, Biozentrum der Universität Würzburg
Diese Rezension erschien im
Skeptiker 3/2006
Mit freundlicher Genehmigung
des Autors (nur Text).