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Neues aus
der Forschung
Embryonalentwicklung in neuem Licht
Molekularbiologie
bestätigt Zusammenhang zwischen Individualentwicklung und
Stammesgeschichte
Die
Tatsache, dass sich die Embryonalstadien unterschiedlicher Tierarten
ähneln und Anklänge an die "im Reifezustand"
ausgebildeten Endorgane anderer Lebensformen zeigen, ist eine
Erkenntnis, die bereits im 18. und 19. Jahrhundert, beispielsweise in
den Arbeiten von Jean Baptiste ROBINET, Charles BONNET und Karl Ernst
VON BAER, Erwähnung findet. Der Morphologe Louis AGASSIZ
entdeckte im Fossilienbefund eine weitere "Parallele": Er bemerkte,
dass sich nicht immer, aber sehr häufig die Reihenfolge, in
der bestimmte Organisationsformen in der Erdgeschichte auftauchen, in
der Abfolge der Entwicklungsstadien widerspiegelt. Diese
"Dreifach-Parallelität" veranlasste den Naturforscher Ernst
HAECKEL zu der Feststellung, dass die individuelle Entwicklung eines
Organismus (Ontogenese) in geraffter Form die Stammesgeschichte
(Phylogenese) rekapituliere (NEUKAMM 2010).
Seit längerem ist
bekannt, dass alle Wirbeltiere eine Entwicklungsperiode durchlaufen, in
der ihr Ähnlichkeitsgrad überdurchschnittlich hoch
ist. Diese so genannte "phylotypische Periode" tritt etwa in der Mitte
der Embryonalentwicklung auf, während in der vorangegangen und
nachfolgenden Periode die artspezifischen Unterschiede dominieren.
Selbiges gilt auch für Insekten. Zur Beschreibung wurde das so
genannte "Sanduhrmodell" entwickelt, welches den "phylotypischen"
Zustand maximaler Ähnlichkeit in der "Wespentaille" des
Entwicklungsgangs beschreibt (s. Abb.).
Abb.:
Das "Sanduhrmodell". Der Grad der Ähnlichkeit der
Wirbeltierembryonen ist in der mittleren Periode ihrer
Embryonalentwicklung überdurchschnittlich hoch,
während in der vorangegangen und nachfolgenden Periode die
artspezifischen Unterschiede dominieren. Nach ELINSON (1987); DUBOULE
(1994); COLLINS (1995).
Auch Kritiker meldeten sich zu
Wort. Bei genauerer Betrachtung weist die mittlere Periode
nämlich individuelle Unterschiede auf, die in einigen
Fällen recht erheblich sein können, so dass die
Existenz des phylotypischen Stadiums bei Wirbeltieren vereinzelt in
Frage gestellt wird (z. B. BININDA-EMONDS et al. 2003, 341-346). Unklar
war auch, inwieweit tatsächlich ein Zusammenhang zwischen der
individuellen Entwicklung eines Lebewesens (Ontogenie) und der
Stammesgeschichte (Phylogenie) besteht. Ungeachtet dessen konnte
wiederholt bestätigt werden, dass die mittlere
Entwicklungsperiode durch eine gemeinsame Basisorganisation sowie eine
verminderte Variabilität gekennzeichnet ist - Befunde, die mit
der Existenz einer "phylotypischen Periode" konform gehen (GALIS/METZ
2001, 291; SCHMIDT/STARCK 2004; MUELLER et al. 2006).
Zwei Teams von Wissenschaftlern,
darunter die Gruppe um Pavel TOMANCAK am Max-Planck-Institut
für Molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, haben nun
erstmals auch Parallelen zwischen individueller Entwicklung und
Stammesgeschichte auf der Ebene der Genexpression nachgewiesen (KALINKA
et al. 2010; DOMAZET-LOŠO/TAUTZ
2010;
Max-Planck-Gesellschaft 2010). An so verschiedenen Organismen wie der
Fruchtfliege und dem Zebrafisch konnte gezeigt werden, dass
während der phylotypischen Periode nicht nur
Ähnlichkeiten in der Körpergrundgestalt, sondern auch
im Expressionsmuster der Gene am größten sind. Dabei
zeichnet das Expressionsmuster von Schlüsselgenen der
Entwicklung das Bild der Sanduhr am besten nach - ein deutlicher
Hinweis auf Parallelen zwischen Ontogenie und Phylogenie.
Tomislav DOMAZET-LOŠO und Diethard TAUTZ, Forscher
am
Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön,
wiesen an Zebrafischen (Danio
rerio) nach, dass während der
phylotypischen Phase die stammesgeschichtlich ältesten Gene
aktiv sind, vorher und nachher sind vor allem Gene angeschaltet, die
entwicklungsgeschichtlich erst später entstanden sind. Und
noch eine erstaunliche Beobachtung machten die Plöner
Evolutionsbiologen: An ausgewachsenen Zebrafischen beobachteten sie,
dass mit zunehmendem Alter der Tiere auch immer ältere Gene
aktiviert sind. Vergleichende Analysen mit Drosophila,
Mücken
der Gattung Anopheles
sowie mit Fadenwürmern kamen zum selben
Ergebnis.
Beide Studien werfen neues Licht
auf ein klassisches Problem der Biologie, den Zusammenhang zwischen
Ontogenie und Phylogenie: "Unsere Entdeckung bestätigt
frühere anatomische Studien und erweitert unser
Verständnis, wie Entwicklung und Evolution auf molekularer
Ebene zusammenhängen", erklärt Alex T. KALINKA,
Forscher in der Dresdener Gruppe. "Die Ergebnisse zeigen, dass die
Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Tierarten in der Mitte der
Embryonalentwicklung durch Selektion geformt wird", fügt Casey
BERGMANN, Co-Autor der Studie von der Universität in
Manchester hinzu. Der Befund erklärt, wie es zur
"Wespentaille" der Sanduhr kommt.
Fruchtfliegen gehören zu
den am besten erforschten Modellorganismen und bieten einzigartige
Möglichkeiten, die der Entwicklung zugrunde liegenden
molekularen Mechanismen zu untersuchen. Das Sanduhrmuster bei
unterschiedlichen Arten zu finden bietet Evolutionsbiologen die
Möglichkeit, eine Zeitreise zu den Anfängen zu
machen, als sich die Vielfalt der Organismen herausgebildet hat. "Wir
hoffen, Einblick in die Prozesse zu bekommen, die zu der Vielfalt an
Formen im Tierreich geführt hat", erklärt Pavel
TOMANCAK das Ziel seiner Arbeit. Die Forscher aus
Plön hatten
für ihre Studie an Zebrafischen, ebenfalls ein
Modellorganismus der Evolutionsbiologie, eigens eine neue Methode - den
transcriptome
age index (TAI) - entwickelt. Er erlaubt es, das
stammesgeschichtliche Alter aktiver Gene zu messen. Mit diesem neuen
Werkzeug machten sich DOMAZET-LOŠO und TAUTZ daran,
die
Zebrafisch-Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis zum erwachsenen
Tier zu verfolgen. "Das TAI-Profil gibt zuverlässig das
Sanduhrmodell wider und zeigt somit, dass es Parallelen zwischen
Ontogenie und Phylogenie gibt", erklärt Diethard Tautz die
Bedeutung der Studie. Die Beobachtung, dass bei älteren
Zebrafischen auch die stammesgeschichtlich ältesten Gene aktiv
sind erklären die Wissenschaftler damit, dass Tiere, die das
fortpflanzungsfähige Alter überschritten haben, von
der Selektion "übersehen" werden.
Die Studien zeigen, dass
Naturforscher wie Karl von BAER, Charles DARWIN und Ernst HAECKEL
prinzipiell richtig lagen mit ihrer Hypothese, dass die
Embryonalentwicklung ein Spiegel der Stammesgeschichte ist. " Es wird
sehr spannend sein, unseren Ansatz auf andere Tierarten mit
unterschiedlichen Bauplänen und Lebenszyklusstrategien
auszudehnen", sagt DOMAZET-LOŠO.
Literatur
BININDA-EMONDS, O.R.P./JEFFEREY, J.E./RICHARDSON, M.K. (2003) Inverting
the hourglass: quantitative evidence against the phylotypic stage in
vertebrate development. Proc. R. Soc. Lond. B 270, 341 – 346.
COLLINS, P. (1995) Embryology and development. In: WILLIAMS, P. et al.
(Hg.) Gray's anatomy, 38th edition. Churchill Livingstone: New York,
91–341.
DOMAZET-LOŠO, T./TAUTZ, D. (2010) A phylogenetically based
transcriptome age index mirrors ontogenetic divergence patterns. Nature
468, 815–818.
DUBOULE, D. (1994) Temporal colinearity and the phylotypic progression:
a basis for the stability of a vertebrate Bauplan and the evolution of
morphologies through heterochrony. Development (Suppl.)
135–142.
ELINSON, R.P. (1987) Change in developmental patterns: embryos of
amphibians with large eggs. In: RAFF, R.A./RAFF, E.C. (Hg.) Development
as an evolutionary process. Alan R. Liss: New York, 1–21.
GALIS, F./METZ, J.A.J. (2001) Testing the Vulnerability of the
Phylotypic Stage: On Modularity and Evolutionary Conservation. J. Exp.
Zool. (Mol. Dev. Evol.) 291, 195–204.
KALINKA, A.T./VARGA, K.M./GERRARD, D.T. et al. (2010) Gene expression
divergence recapitulates the developmental hourglass model. Nature 468,
811–814.
Max-Planck-Gesellschaft (2010) Presseinformation: Embryonalentwicklung
in neuem Licht. Ähnlichkeiten in der Embryonalentwicklung
verschiedener Tierarten finden sich auch auf molekularer Ebene.
www.mpg.de/.../pressemitteilungen/2010/pressemitteilung201012072/index.html
MUELLER, T./VERNIER, P./WULLIMANN, M.F. (2006) A phylotypic stage in
vertebrate brain development: GABA cell patterns in zebrafish compared
to mouse. Journal of Comparative Neurology 494, 620–634.
NEUKAMM, M. (2010) Ernst Haeckels Gedanken zur Phylogenese und das
Konzept der ontogenetischen Rekapitulation. Teil 1: Das
Biogenetische Grundgesetz. Laborjournal 16(9), 34-39.
SCHMIDT, K./STARCK, J.M. (2004) Developmental variability during early
embryonic de-velopment of zebra fish, Danio rerio. J. Exp. Zool. (Mol.
Dev. Evol.) 302(5), 446–457
Autor: Martin
Neukamm via Max-Planck-Gesellschaft
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
16.12.2010