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Rezension:
Laborjournal 4/2008, S. 86
Kirschner, M.W & Gerhart, J.C. (2007) Die
Lösung von Darwins Dilemma
Rowohlt-Verlag, Hamburg. 416 S. Preis: 12,90
€. ISBN: 3499622378
Seit
Darwin wird die Entstehung evolutiver Neuheiten bzw. Arten durch das
Wechselspiel von zufälliger Variation und natürlicher
Selektion erklärt. Darwin selbst kannte den Grund der
Variation noch nicht - erst viel später gelang es, die
Ursachen der Veränderlichkeit von Arten zu ergründen:
es sind Mutationen in der Keimbahn, Abwandlungen des "genetischen
Codes", der metaphorisch gesprochen die Bauanleitung der Lebewesen
enthält. Wie plausibel aber ist es, dass durch Mutationen
genügend nützliche, konstruktiv sinnvolle Varianten
entstehen, die es der natürlichen Selektion
ermöglichen, komplexe Innovationen zu begünstigen?
Welche Mechanismen steuern jenseits der genetischen Variation den
Gestaltwandel, der zur heutigen Artenvielfalt führte?
Über diese Fragen erfährt man in Lehrbüchern
meist nichts oder nur wenig, und auch Darwin vermochte sie nicht zu
beantworten. Er stand vor einem Dilemma und musste das Auftreten
nützlicher Variationen als unerklärte Randbedingung
voraussetzen. Heute können wir die Fragen besser beantworten,
dies aber oft in einer abstrakten Sprache, die den Nichtbiologen
überfordert.
Nicht so das Buch Die
Lösung von Darwins Dilemma der Biologen Gerhart und
Kirschner. Anschaulich erörtern sie, woher die Evolution ihre
schöpferische Kraft bezieht, wie im Lauf der Erdgeschichte
(ausgehend von relativ unspektakulären genetischen
Veränderungen) die großen Transformationen im Tier-
und Pflanzenreich entstehen konnten. Ihr Konzept bezeichnen sie als
Theorie der erleichterten Variation. Danach erklärt sich
Evolution keineswegs aus dem höchst unwahrscheinlichen
Zusammentreffen einer großen Zahl blinder Mutationen, die
"richtig" zusammenspielen müssen, um einen Bauplan konzertiert
umzustrukturieren. Die Autoren sehen hinter der Vielfalt des Lebens
einfachere Prinzipien am Werk.
Bildlich gesprochen hat die
Evolution nie vor der Aufgabe gestanden, durch blindes Würfeln
aus einem "Buchstabensalat" einen sinnvollen Roman entstehen zu lassen.
Vielmehr operiert sie mit einem Baukasten bereits vorhandener,
konservierter Module (um im Bild zu bleiben: mit ganzen
Wörtern, Satzteilen, Sätzen und Text-Abschnitten),
die - sind sie einmal entstanden - nahezu beliebig oft kopiert,
umstrukturiert und zu immer neuen Texten arrangiert werden
können. Dieses fortwährende Recycling elementarer
Module erleichtert die Variation erheblich, wodurch aber auch die Zahl
der Entwicklungsalternativen eingeschränkt wird, so dass sich
in der Evolution immer wieder in rekapitulierender Weise die
ursprünglichen Grundzüge der Entwicklungsprogramme
enthüllen.
Doch ist die Keimesentwicklung
keineswegs nur genetisch determiniert. Vielmehr ist sie die Folge
wechselseitiger Beeinflussung von Embryonalzustand und Genaktivierung.
Da jede Abweichung in diesem System die räumlich-zeitliche
Entwicklung des Embryos in "andere Bahnen" lenken kann, schlummert in
der Keimesentwicklung eine Fülle an Entwicklungspotenzen, die
sich nach systemeigenen Gesetzmäßigkeiten entfalten.
Freilich bedarf es auch der Entstehung genetischer Neuheiten, deren
Herkunft sich z. B. durch Chromosomen-Mutationen erklärt.
Solche "Wellen der Innovation" aber sind nach Ansicht der Autoren
bescheiden im Vergleich zu den daraus resultierenden
Entwicklungsmöglichkeiten.
Dieses Buch wurde bereits im
Jahr 2005 in englischer Sprache unter dem Titel The Plausibility of
Life (Yale University Press) publiziert und erntete in der Fachwelt
nicht nur Lob. Einige Rezensenten kritisieren, dass das Konzept zu
allgemein und lückenhaft sei. Dieser Einwand ist berechtigt.
Doch der Ansatz der Autoren weist in eine Richtung, in der etwas zu
holen ist, das zeigt die stetig steigende Zahl von
Erklärungserfolgen in der evolutionären
Entwicklungsbiologie. Daher können Evolutionsgegner aus dem
Einwand auch keinen Honig saugen. Das endlose Hin-und-Her, z. B. der
kreationistischen Vereinigung Wort und Wissen, inwieweit das Konzept
unzureichend zur Erklärung der Entstehung evolutiver Neuheiten
sei oder auf einen "vorausplanenden Designer" hindeute, ist nur einmal
mehr Ausdruck einer wissenschaftlich ungenügenden Taktik.
Zuletzt stellt sich immer die Frage, was überzeugender ist:
eine unzureichende aber im Grundsatz inhaltlich-kausale
Erklärung, oder eine immer zureichende jedoch völlig
unspezifische, nichts sagende, die eine numinose Intelligenz als Joker,
als Platzhalter der Ignoranz im Kartenspiel kausaler
Erklärungen einsetzt.
Fazit: Wer sich mit der
modernen Sicht auf die Evolution vertraut machen möchte, wird
das Buch mit großem Gewinn lesen.
Autor: Martin
Neukamm
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
07.05.2008