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Bericht
Zur Argumentationsstrategie parawissenschaftlicher
Leugner
Oder
wie moderne Ideologen ihre Behauptungen gegen Kritik immunisieren
Der
weithin übliche, ebenso dreiste und demonstrativ
selbstbewusste wie in der Sache unqualifizierte Umgang mit
wissenschaftlichen Daten und Erkenntnissen hat eine Reihe von
offensichtlichen sozialen Grundlagen. Dazu gehören neben
häufig ausgeprägten psychologischen Charakteristika
(die auch aus der umweltmedizinischen Erfahrung jedem damit praktisch
Befassten bekannt sind) oft handfeste wirtschaftliche und politische
Interessen, die von wohlorganisierten Gruppen in systematischer Weise
und obskurantistischer Absicht pseudowissenschaftlich kaschiert
werden.
Diesem Thema widmet sich ein Heft
des britischen Wissenschaftsmagazins "NEW SCIENTIST" (Druckausgabe 15.
Mai 2010; online:
Special report:
Living in Denial). Die Beiträge beziehen sich zu
weiten Teilen auf die Behandlung der Klimaforschung, treffen jedoch in
der Essenz auch auf viele "Evolutionsskeptiker" und
"Darwinismusleugner" zu. Erwähnenswert sind auch die
vielfältigen Überschneidungen zwischen diversen
Leugnergruppen, in denen sich eine insgesamt wissenschaftsfeindliche
und antirationale Haltung manifestiert, die primär den Zielen
der intellektuellen Einfachheit, Gewissheit, sozialen
Feind-Identifikation, Selbsterhöhung und (kollektiven)
emotionalen Befriedigung verpflichtet ist.
Pascal DIETHELM sowie Martin
MCKEE, ein Epidemiologe an der London School of Hygiene and Tropical
Medicine, haben in einem Artikel (The
European Journal of Public Health 2009;19(1):2-4) sechs
Taktiken identifiziert, die seitens aller anti- oder
pseudowissenschaftlichen Leugnerbewegungen benutzt werden, gleich ob
sie Klimawandel, Evolutionsbiologie, AIDS/HIV, Impfung, Rauchen,
Effekte der Umweltverschmutzung usw. zum Gegenstand haben. Dazu
folgende Worte: "Ich will nicht suggerieren, dass es irgendwo ein
Handbuch dazu gibt, doch lassen sich diese Elemente, in wechselndem
Maße, auf vielen Schauplätzen erkennen." Aus einem
der Beiträge im "New Scientist" stammen die folgenden, in
Deutsche übersetzten, teils erweiterten Auszüge, in
denen wesentliche Passagen des Artikels zusammengefasst sind.
1.
Unterstelle, dass es eine Verschwörung gibt. Behaupte, dass
der wissenschaftliche Konsens durch betrügerisches
Einverständnis oder durch weltanschauliche
Präferenzen statt durch Anhäufung von Evidenz
zustande gekommen sei.
2.
Ziehe vorgetäuschte oder fachfremde Experten heran, die
aufgrund ihrer Weltanschauung oder ihrer Interessen voreingenommen
sind, um deine Darstellung zu stützen und ihr
Autorität zu verleihen. "Leugnung beginnt immer mit einem
Kader von Pseudoexperten, die auf einen gewissen Leumund verweisen
können und eine Fassade der Glaubwürdigkeit
schaffen", so Seth Kalichman von der University of
Connecticut.
3.
Suche dir passende Daten (evidence) nach Belieben zusammen. Posaune
hinaus, was deinen Fall zu stützen scheint und ignoriere den
Rest oder erkläre ihn für irrelevant. Verweise immer
dann auf Ergebnisse der Naturwissenschaft, wenn sie brauchbar
erscheinen, und verdamme sie als Ideologie, wo ihre Ergebnisse nicht in
das Konzept passen. Beharre darin, vorgeblich unterstützende
Argumente vorzubringen, auch wenn sie entkräftet worden
sind.
4.
Setze Maßstäbe für deine Gegner, die sie
unmöglich erfüllen können. Fordere von ihnen
beispielsweise den Beweis durch Augenschein, wo die Sachverhalte nur
theoretisch erschlossen werden können. Begegne ihren Antworten
mit weiteren Fragen auf der jeweils nächsten Ebene der
Erkenntnis. Beharre darauf, dass die Erklärungen keine
Erklärungen seien, solange die Herkunft der Randbedingungen
bzw. die Voraussetzungen dessen, was erklärt wird, nicht
ebenfalls vollständig erklärt worden sind.
Verkompliziere den zu erklärenden Sachverhalt durch die
Forderung, alle Abhängigkeiten im System müssten gleichermaßen
in der Erklärung berücksichtigt werden, andernfalls
lägen unzulässige Vereinfachungen vor. Behaupte
grundsätzlich, dass die vorliegenden Daten nicht ausreichend
seien und es mehr Daten bedürfe. Wenn dein Gegner mit eben den
Daten und Erklärungen aufwartet, die du verlangt hast, lege
die Messlatte höher oder verlagere den Streitpunkt.
5.
Mache Gebrauch von logischen Fehlschlüssen. Hitler war gegen
das Rauchen, folglich sind Maßnahmen gegen das Rauchen des
Nazitums verdächtig. Die Zeugen Jehovas sind in der Nazizeit
verfolgt worden, also ist Kritik an ihrer Argumentation mit den
damaligen Verfolgungen vergleichbar. Stelle den wissenschaftlichen
Konsens falsch dar oder kritisiere antiquierte Vorstellungen und
schlage dann den so aufgebauten Strohmann nieder.
6.
Fabriziere systematisch Zweifel. Betone offene Detailfragen
über Gebühr und suggeriere, dass die Theorie deiner
Gegner dadurch an Plausibilität verlöre. Stelle
entgegen den Tatsachen die Wissenschaftler als derart uneinig in ihrer
Meinung dar, dass es voreilig wäre, ihre Theorie als
wohlbestätigt zu bezeichnen und praktische Maßnahmen
auf ihren Ratschlägen aufzubauen. Bringe
Außenseitermeinungen gegen den "mainstream" über
Gebühr in Position und zitiere ihre Arbeiten so, als handele
es sich dabei um weithin anerkannte Lehrmeinungen. Beharre darauf, dass
"beide Seiten" gehört werden müssten, und schreie
lauthals "Zensur", wenn "nichtkonforme" Argumente oder Experten
zurückgewiesen werden.
Es ist unnötig zu
betonen, dass sich all diese Strategien mit unterschiedlicher
Gewichtung auch im Schrifttum der (deutschen) "Evolutionsleugner"
wiederfinden, so dass die obenstehende Liste eine praktische Hilfe bei
der Identifikation pseudowissenschaftlicher Texte sein mag.
Überdies ist die starke ideologische und personelle
Überschneidung zwischen verschiedenen "Leugnergruppen"
offenkundig, vor allem in den USA. Wer die genannten Strategien "in
Aktion" sehen möchte, wird jedoch auch im deutschen Sprachraum
leicht fündig werden. Hierbei können die bekannten
"Darwinismusleugner" oder "Evolutionsleugner"
naturgemäß auf eine noch längere,
institutionalisierte, argumentative Tradition zurückblicken
als beispielsweise die Leugner der Ursachen des Klimawandels oder der
Schädlichkeit des Rauchens, Passivrauchens, Feinstaubs usw.
Autor: Rudolf
Jörres
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
20.05.2010