Neue
Befunde untermauern das "stereochemische Modell"
Eines
der ungelösten - und zweifellos spannendsten - Rätsel
der molekularen Evolution ist die Entstehung des genetischen Codes in
seiner heutigen Form. Man kann davon ausgehen, dass die Unterschiede
der chemischen Interaktionen oder Interaktionspotenziale, die sich bei
Unterschieden der molekularen Struktur notwendigerweise ergeben, von
Anfang an wirksam waren. Diese Unterschiede setzten
Präferenzen, die bestimmte Wechselwirkungen und vermutlich in
der Folge auch genetische Codes begünstigten, andere nicht.
Somit ist es von großem Interesse, innerhalb des Spektrums
prinzipiell möglicher molekularer Wechselwirkungen zu
eruieren, inwieweit die heute beobachteten Code-Beziehungen zwischen
Aminosäuren und RNA von vornherein strukturell bzw.
energetisch begünstigten Interaktionen entsprechen bzw. das
Ergebnis physikalisch-chemischer Notwendigkeiten darstellen.
Dem allgemein favorisierten
"stereochemischen Modell" zufolge organisierte sich der genetische Code
zunächst aus einem Ensemble sich selbst replizierender
RNA-Moleküle (so genannter Ribozyme), die
unmittelbar bestimmte Aminosäuren binden können.
Diese so genannten Aptamere
kodieren also direkt (ohne Umweg über einen "Transporter")
Aminosäuren. So ist es durchaus wahrscheinlich, dass am Ende
der RNA-Welt in einem Komplex sich selbst replizierender Ribozyme
diverse Moleküle auch einige Aminosäure-Aptamere
enthielten. Gesellten sich in der Folge weitere Aptamere hinzu sowie
ein Ribozym, welches die Verknüpfung der Aminosäuren
zu Oligopeptiden katalysiert, wäre aus einem sich selbst
replizierenden Hyperzyklus ein einfacher Translations-Apparat
entstanden. Später könnten sich einige dieser
Ribozyme auf die Herstellung von Peptiden, andere auf die "Beladung"
von RNA-Molekülen mit Aminosäuren spezialisiert
haben, während aus den so beladenen RNA-Molekülen
wiederum die verschiedenen Sorten tRNA entstanden sind (vgl.
KNIGHT/LANDWEBER 2000; KAISER 2009, 198f.).
Dieses zunächst
spekulative Modell konnte jetzt durch neue empirische Daten empirisch
untermauert werden (YARUS et al. 2009). Die am Department für
Biology und Chemie/Biochemie der University of Colorado
ansässige Forschergruppe rekonstruierte dazu die Struktur
RNA-gebundener Aminosäuren innerhalb sog. Aptamere,
Riboswitches und ribonukleärer Proteine. Die Information
bezogen die Autoren aus der Kombination kristallographischer Daten, die
mittels Röntgendiffraktion gewonnen wurden, und
Strukturinfomationen anhand der Kernresonanzspektroskopie (NMR). Durch
derartige Ansätze lassen sich Rückschlüsse
auf die chemischen Prinzipien ziehen, welche die spezifische
Wechselwirkung zwischen Aminosäuren und RNA steuern. Die
identifizierten chemischen Prinzipien werden in der Arbeit
zusammenfassend als "polares Profil" bezeichnet. Sie erweisen sich als
nützlich in der Erklärung der Präferenz von
RNA-Bindungsstellen für spezifische Aminosäuren, wenn
diese Seitenketten verschiedener Art tragen, seien sie geladen, neutral
polar, aliphatisch oder aromatisch. Die bevorzugt auftretenden
Beziehungen lassen sich sodann darauf untersuchen, ob die
Bindungsstellen Ähnlichkeiten mit dem genetischen Code
aufweisen, genauer gesagt, ob sie der heutigen Zuordnung von
Aminosäuren zu den jeweiligen Anticodons (DNA-Triplets) auf
der transfer-RNA (t-RNA) entsprechen oder diese nahebei
liegen.
Die Autoren analysierten neueste
Daten zu 337 Bindungsstellen der RNA für 8
Aminosäuren an insgesamt 18551 Nukleotiden. Mittels der
genannten Methoden ergab sich eine robuste, d. h. gegenüber
Störfaktoren wenig anfällige, Beziehung zwischen den
Aminosäuren einerseits und den erkennenden Basentripletts in
bzw. nahe den analysierten RNA-Bindungsstellen andererseits. Die
Wahrscheinlichkeit, dass die Basentripletts mit den RNA-Bindungsstellen
der Aminosäuren in rein zufälligem Zusammenhang
standen, war äußerst gering. Sie berechnete sich auf
5,3 x 10-45 für die Codons ingesamt und
auf 2,1 x 10-46 für die erkennenden
Anticodons. Somit ist die beobachtete Beziehung als
nichtzufällig anzunehmen. Die Tatsache, dass eine Reihe von
Tripletts in unmittelbarer Nachbarschaft zu ihren gegenwärtig
codierten Aminosäuren liegen, ist somit bereits durch
elementare chemisch-strukturelle Beziehungen zu erklären. Das
legt nahe, dass es in der frühen Evolution des genetischen
Codes eine "stereochemische Ära" gab, die auf Unterschieden in
der Stabilität der Bindung zwischen Aminosäuren und
Tertiärstrukturen der RNA-Bindungsstellen basierte.
Gleichwohl bleibt festzuhalten,
dass sich das Auftreten codierender Basentripletts direkt innerhalb der
Bindungsstellen der RNA in Grenzen hielt; nur 21 % der heute als
kodierend gefundenen Basentripletts traten in dieser Weise in
Erscheinung. Ausgehend von den reproduzierbaren Assoziationen, welche
die Analyse aufzeigte, extrapolieren die Autoren allerdings, dass ca.
75 % der heute vorkommenden Aminosäuren in der
stereochemischen Ära ihren entsprechenden RNA-Code fanden,
wenngleich nur ca. 21 % der heute gefundenen Codons und Anticodons auf
unmittelbarer Kopplung von Aminosäuren an ihre
RNA-Bindungsstellen basieren. Diese Befunde liefern eine wesentliche
Grundlage für ein Modell, das unter Einbeziehung
stereochemischer Aspekte die frühe Geschichte der Entstehung
des genetischen Codes auf plausible Weise erklärt.
Die Arbeit ist ein weiterer
Baustein im Verständnis der molekularen
Evolution, der das Zusammenwirken zufälliger Faktoren mit
Richtungselementen beschreibt, die der materiellen Struktur
inhärent
sind. Die Ergebnisse der Analyse belegen einmal mehr die
Inadäquatheit
verbreiteter, naiver Wahrscheinlichkeits-Argumente, die mittels
Rekurses auf den "bloßen Zufall" die Notwendigkeit der
Annahme
supranaturaler Eingriffe suggerieren wollen. Der genetische Code ist,
wie die Arbeit belegt, zumindest zum Teil das Ergebnis
inhärenter,
physikalisch-chemischer Gesetzlichkeiten.
Literatur
KNIGHT, R.D./LANDWEBER, L.F. (2000) Guilt by association: the arginine
case revisited. RNA 6, 499–510.
KAISER, P. (2009) Die chemische Evolution: Hat es sie gegeben und wenn
ja, wie sah sie aus? In: Neukamm, M. (Hg.) Evolution im Fadenkreuz des
Kreationismus. Darwins religiöse Gegner und ihre
Argumentation. Göttingen, 171–211.
YARUS, M./WIDMANN, J.J./KNIGHT, R. (2009) RNA–Amino Acid
Binding: A Stereochemical Era for the Genetic Code. J Mol Evol 69,
406–429.