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Faktenwissen
Wie tierische Zellen aneinander haften
Evolution
der Zelladhäsion bei Vielzellern
Multizelluläre
Organismen - also die komplexer gebauten Tiere (Metazoen) und Pflanzen
- brauchen, um funktionieren zu können, Eigenschaften, welche
von
Einzellern nicht benötigt werden. Zu nennen wären
beispielsweise:
- Zell-Zell
Kommunikation
(über größere Zellverbände oder
über den
ganzen Körper hinweg auf (bio-) chemischem Wege über
Hormone
oder gezielt von einer Zelle zur nächsten über
Neurotransmitter, also auf nervösem Wege).
- Zelldifferenzierung:
Der Organismus besteht aus etlichen bis hunderten verschiedenen
Zelltypen; diese müssen koordiniert und unter mehr oder
weniger
strikter Regulation aus undifferenzierten Vorläuferzellen
gebildet
werden.
-
Zelladhäsion:
Die Zellen des Organismus müssen, damit er eine definierte
Gestalt
ausbilden kann, auf bestimmte Weise aneinander haften.
Damit Mehrzeller entstehen
konnten, mussten
also diese Vorbedingungen erfüllt sein. Nun muss man sich
fragen,
was dem gemeinsamen Vorfahren der Metazoen, einem einzelligen
Lebewesen, Eigenschaften wie interzelluläre Kommunikation oder
Zelladhäsion genützt haben sollen. Kann man sich
tatsächlich vorstellen, dass diese Eigenschaften in einem
einzelligen
Lebewesen evolvierten? Die Alternative, nämlich
die
gleichzeitige, mehr oder weniger sprunghafte
Entstehung all dieser
Eigenschaften und Fähigkeiten zusammen mit der Mehrzelligkeit,
ist
derart unwahrscheinlich, dass man an diese Möglichkeit keinen
Gedanken zu verschwenden braucht.
Was also ist des Rätsels
Lösung? Wie
so oft so zeigt sich auch hier, dass die menschliche Fantasie
unzureichend ist, wenn es darum geht, historische Abläufe
allein
mit Hilfe der Vorstellungskraft zu rekonstruieren. Man kann sich mit
seinem "gesunden Menschenverstand" kaum von der Idee lösen,
dass
all diese Elemente erstmals in einem Einzeller vorhanden gewesen sein
mussten (der davon allerdings nicht profitieren konnte), bevor sich die
Metazoen überhaupt entwickelten konnten. Doch hier liegt ein
fundamentaler Irrtum vor, und zwar bezüglich der Vorstellung,
dass
es "die
Einzelligkeit" und "die
Vielzelligkeit" gäbe, dass
oben
benannte Eigenschaften für Einzeller grundsätzlich
nutzlos
seien und dass es keine Organisationsformen zwischen Ein- und
Mehrzelligkeit geben könne.
Glücklicherweise hat uns
die Natur an
einigen Stellen Hinweise über die Entwicklung hinterlassen:
Viele
Einzeller kommunizieren über sog. Pheromone; etliche
wechseln
in
ihrem Lebenszyklus zwischen ein- und mehrzelligen Phasen (z.B. bildet
Dictyostelium
discoideum
unter Hungerbedingungen vielzellige
Fruchtkörper). Schwämme haben keine echten Gewebe und
erst
recht keine Nervenzellen, aber die Zellen kommunizieren bereits auf
eine Art und Weise, wie es die Nervenzellen höherer Tiere tun
(natürlich weitaus einfacher).
Nun haben
Sebé-Pedrós et al.
(2010) eine Untersuchung veröffentlicht, die sich mit der
Evolution der Zelladhäsion und der damit verbundenen
Kommunikationsprozesse befasst. Tierische Zellen heften sich mithilfe
unterschiedlicher Proteinsysteme an; das wichtigste ist der
Integrin-Adhäsionskomplex (Abb. 1).
Abb.
1: Integrine sind sog heterodime (= aus
zwei veschiedenen Untereinheiten aufgebaute) Transmembranproteine, d.h.
sie durchqueren die Zellmembran. Sie bestehen aus einer alpha- und
einer beta-Untereinheit. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, das
Zellskelett ("Zytoskelett", aus Aktin bestehend, in der Abb. unten) mit
der Extrazellularmatrix, also den Stützstrukturen zwischen den
Zellen zu verbinden. Dieser Kontakt erfolgt indirekt, d.h. es
existieren inner- und außerhalb der Zelle noch weitere
Brückenmoleküle wie alpha-Actinin, Talin (an
Integrin-beta
bindend) sowie Paxillin und Vinculin (ihrerseits an Talin und
alpha-Actinin bindend). Der Integrin-Komplex dient auch der
Nachrichtenübermittlung. Quelle:
http://www.uic.edu/classes/bios/bios100/f06pm/integrin.jpg
Die Autoren verglichen die
mittlerweile komplett sequenzierten Genome
etlicher Ein- und Mehrzeller und suchten nach Genen für
Integrin
und solche Proteine, die mit Integrin wechselwirken. Das Ergebnis war
unerwartet, aber bei näherer Betrachtung alles andere als
überraschend: Die Präsenz
des Integrin-Systems lässt sich bis weit in das Reich der
Einzeller zurückverfolgen (Abb.2).
Abb.2:
Anwesenheit unterschiedlicher Komponenten des Integrin-Komplexes
in verschiedenen eukaryontischen Gruppen. Schematischer Stammbaum der
Eukaryoten (mit besonderem Augenmerk auf den Zweig der Animalia,
Tiere). Dargestellt sind die verschiedenen Komponenten des Integrin
Adhäsions-Komplexes. Spalte 1+2: Anzahl der
Integrin-Homologen.
Schwarzer
Punkt: Homologe (mit deutlicher Sequenzähnlichkeit)
klar
identifizierbar. Weißer
Punkt: Kandidaten für
Homologe mit
geringerer Ähnlichkeit. Kein
Punkt: Gen nicht vorhanden. Die
meisten Elemente des Zellskeletts (Myosin, Aktin, Tubiulin etc.) sind
nicht aufgeführt - sie sind bei praktisch allen Eukaryonten
vorhanden. Aus: SEBÉ-PEDRÓS et al.
(2010).
Ausgehend von diesen Befunden
lässt sich ein Szenario
rekonstruieren, welches die Evolution des Integrin-Komplexes beschreibt
(Abb.3). Eine der wichtigsten Lehren, die man (beileibe nicht nur aus
diesem Fall) ziehen kann, ist die folgende Erkenntnis: Komplizierte,
biologische Systeme sind in der Tat irreduzibel komplex. Wer jedoch
daraus schließt, dass sie
in einem Schritt entstanden (ergo:
designt) worden seien, begeht einen Denkfehler. Bei genauer Betrachtung
wird man fast immer Systeme finden, die einfacher gebaut sind und/oder
bei denen Komponenten fehlen oder zusätzliche Komponenten
vorhanden sind. Diese Systeme funktionieren ebenfalls,
möglicherweise weniger effizient oder differenziert, fast
immer in
einem mehr oder weniger ähnlichen oder auch abgewandelten
funktionellen Kontext - gerade so, wie man es aus
evolutionstheoretischer Perspektive erwartet.
Abb.3:
Modell der Evolution des Integrin-Adhäsions- und des
Integrin-signalkomplexes. Links: Der "kanonische", eukaryontische
Integrin-Komplex. Die Farben bezeichnen die drei Haupt-Schritte der
Entwicklung, rechts im Kladogramm entsprechend markiert. Punkte
bezeichnen die Entstehung, Kreuze den Verlust der betreffenden Anteile.
Der Zweig, der zu Amastigomonas
führt, ist gestrichelt, weil
seine
phylogenetische Position noch nicht ganz klar ist.
Interessanterweise ist die
Fähigkeit zur Adhäsion an
verschiedene Oberflächen auch bei Bakterien eine sehr weit
verbreitete Eigenschaft. Tatsächlich gibt es so gut wie keine
Bakterienarten, die sich nicht mittels Adhäsine an
Oberflächen anheften können (AN/FRIEDMAN 2000; DUNNE
2002).
Während zur einfachen Erst-Adhäsion simple
elektrostatische
Wechselwirkungen und Van-der-Waals-Bindungskräfte ausreichen
(RAZATOS et al. 1998), gibt es für eine feste
Adhäsion ein
immens breites Spektrum an Adhäsions-Molekülen
(PIZARRO-CERDÁ/COSSART 2006; SOTO et al. 1999). Eine der
immer
wiederkehrenden und für funktionelle Adhäsion
wichtige
Protein-Domäne (Motiv) ist das so genannte "parallele
beta-Faltblatt" (in Form von sog. beta-sheets oder beta-barrels, wie
man diese Elemente in der Strukturbiologie nennt; Abb. 4 und 5)
(NIEMANN et al. 2004). Derart gebaute Struktur-Motive vermitteln die
Adhäsion an andere Proteine und sind oft gekennzeichnet durch
häufige Wiederholung der Aminosäuren Leucin,
Isoleucin und
Valin (leucin-rich
repeats) (KOBE/KAJAVA 2001). Dieses Motiv ist
interessanterweise keinesfalls spezifisch für
Adhäsine,
sondern findet sich auch in vielen anderen Enzymen wie auch integralen
Proteinen der äußeren Zellmembran (NIEMANN et al.
2004, JENKINS/PICKERSGILL 2001). Festzuhalten ist, dass Bakterien wie
eukaryote Einzeller die Fähigkeit zur Adhäsion
schrittweise
entwickelten, ohne dass diese Eigenschaft zunächst etwas mit
Vielzelligkeit zu tun hatte.
Abb.4:
Schemazeichnung eines Strukturblocks in einem Protein mit
ß-Faltblatt.
Der durchgehende "Faden" stellt
die Aminosäurekette dar, in den
braunen "Schrauben" ist er zur sog. alpha-Helices aufgerollt. Die
blauen Pfeile stellen "beta-strands" dar, die sich zu einem
beta-Faltblatt zusammen gelagert haben.
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/21/PDB_1qys_EBI.jpg
Abb.5:
FAB Fragment des IGG aus beta-folds. Die meisten Proteine
beinhalten sowohl alpha-Helices als auch beta-Faltblätter. Die
Antikörper
hingegen - hier ein die Struktur des sog. FAB-Fragments des
Antikörpers Immunglobulin G (IGG) dargestellt - sind
ausschließlich aus beta-Faltblättern und kurzen,
verbindenden Schliefen aufgebaut. Quelle:
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/.../800px-1MRC_Igg_Jel_103_Fab_Fragment.png
So weit verbreitet und simpel die
"parallele beta-Faltblatt"-Struktur
auch ist, so vielfältig ist dessen Evolution
(JENKINS/PICKERSGILL 2001). Eine derart einfache Struktur ist mit
Sicherheit viele Male
parallel evolviert; hinzu kommen Gen- und Domänenduplikationen
(JENKINS/PICKERSGILL 2001) sowie horizontaler Gentransfer.
Fazit
Es zeigt sich immer wieder, dass die meisten Systeme, die bei
mehrzelligen Tieren wichtige Aufgaben erfüllen, bei
einzelligen Vorfahrenarten bereits in ähnlicher, zumeist
präadaptierter Form vorhanden waren - wie nicht anders zu
erwarten in einfacherer und bisweilen rudimentärer Form. Die
Evolution verlief mosaikartig und Schritt für Schritt: Die
Systeme etablierten sich nach und nach und wurden in der einen
Abstammungslinie durch Gen-Verdopplung und Rekrutierung anderer Gene
schrittweise komplexer, während sie in anderen Linien durch
Genverlust einfacher wurden oder gar vollständig verschwanden.
In solchen Organismen, in denen ein System aufgrund seiner
Beschaffenheit neue Optionen eröffnet, standen der Evolution
neue Wege offen, z.B. der Weg in die Mehrzelligkeit.
Literatur
AN, Y.H./ FRIEDMAN, R.J. (2000) Handbook of Bacterial Adhesion:
Principles, Methods, and Applications. Humana Press.
DUNNE, W.M. Jr (2002) Bacterial Adhesion: Seen Any Good Biofilms
Lately? Clin Microbiol Rev 15, 155-166.
JENKINS, J./ PICKERSGILL, R. (2001) The architecture of parallel
-helices and related folds. Progress in Biophysics and Molecular
Biology 77, 111-175.
KOBE, B./ KAJAVA, A.V. (2001) The leucine-rich repeat as a protein
recognition motif. Current Opinion in Structural Biology 11, 725-732.
NIEMANN, H.H./ SCHUBERT, W.-D. et al. (2004) Adhesins and invasins of
pathogenic bacteria: a structural view. Microbes and Infection 6,
101-112.
PIZARRO-CERDÁ, J./ COSSART, P. (2006) Bacterial Adhesion and
Entry into Host Cells. Cell 124, 715-727.
RAZATOS, A./ ONG, Y.-L. et al. (1998) Molecular determinants of
bacterial adhesion monitored by atomic force microscopy. Proc Natl Acad
Sci U S A 95, 11059-11064
SEBÉ-PEDRÓS, A./ ROGER, A.J. et al. (2010)
Ancient origin of the integrin-mediated adhesion and signaling
machinery. PNAS 107(22), 10142-10147.
SOTO, G.E./ HULTGREN, S.J. (1999) Bacterial Adhesins: Common Themes and
Variations in Architecture and Assembly. J Bacteriol 181, 1059-1071.
Wissenschaftliche Webseite zur Evolution der Vielzelligkeit:
http://www.broadinstitute.org/annotation/genome/multicellularity_project/MultiHome.html
Autoren:
Andreas Beyer / Johannes Sikorski
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
13.07.2010