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Kommentar

     

Stellungnahme zum Artikel "McCarthy der Wissenschaft" 


Priv.-Doz. Dr. Rudolf A. Jörres

     

Nachfolgender Beitrag ist ein Kommentar, der am 26.06.2008 um 21:49 Uhr per E-mail an die Redaktion der Zeitschrift "Freitag" gesandt wurde. Anlass war ein Artikel von Dr. Benno Kirsch im Kulturteil der Internet-Version dieser Zeitschrift (Nr. 26). Laut Auskunft der Redaktion konnte der Kommentar aufgrund seiner Länge nicht als Leserbrief gedruckt werden. Er wurde uns jedoch auf unsere Bitte hin vom Verfasser zur Verfügung gestellt, da eine Kopie nachrichtlich an Prof. Kutschera gegangen war. Wenn der Kommentar auch in der Tat für einen abdruckbaren Leserbrief zu lang ist, so bietet er doch umgekehrt den Vorteil einer umfassenden Argumentation und Perspektive. Wir möchten ihn daher an dieser Stelle bringen. 

   

Sehr geehrte Redaktion, sehr geehrter Herr Kirsch, 

 

mit Interesse nahm ich Ihren Artikel bezüglich Herrn Kutscheras in der von mir durchaus geschätzten Zeitschrift "Freitag" wahr. Diesen Beitrag allerdings finde ich befremdlich und habe den Verdacht, dass hier unter dem Leitmotiv einer - an sich löblichen - kritischen und skeptischen Haltung gegenüber etablierten Meinungen, auch solchen der Wissenschaft, de facto ein intellektuelles Selbstopfer betrieben oder nahegelegt wird. Und dies zugunsten fragwürdiger geistiger Attitüden und solcher Personen, die man mit hoher Wahrscheinlichkeit weder als kritisch und skeptisch im Sinne einer persönlichen Grundhaltung noch als aus der großen Zahl herausragende, originelle und in Zukunft erwartungsgemäß signifikant zum Erkenntnisgewinn beitragende Vertreter der Naturwissenschaft beschreiben kann.

Die Arbeitsweise und innere Logik naturwissenschaftlicher Disziplinen darzustellen ist ohne Zweifel ein komplexes Unterfangen. Dies ist jedem Wissenschaftler bekannt, der seine eigene tägliche Praxis und Verfahrensweise, multiple Evidenz abzuwägen, kritische Einwände antizipatorisch aufzubringen und zu berücksichtigen usw., reflektiert und diese beispielsweise mit den Vorstellungen mancher Wissenschaftstheoretiker vergleicht. 

In besonderem Maße gilt dies für die Evolutionsbiologie, da hier neben dem funktionalen das historische Moment und der diesem gemäß einem naturalistischen Konzept inhärente Zufall zum Tragen kommen und experimentelle Rekonstruktionen allenfalls in kleinstem Maßstab bzw. dem Prinzip nach möglich sind. Insofern ist die Evolutionsbiologie weitgehend eine historische Rekonstruktion oder, wenn man so will, Erzählung. Allerdings sind verschiedene historische Erzählungen in der Regel durch derart unterschiedliche Evidenz gestützt, dass es nicht mehr als eine intellektuelle Spielerei ist, sie für prinzipiell gleichrangig oder auch nur vergleichbar zu halten. Dies gilt auch für das tägliche Leben. Es ist aufgrund aller mir verfügbaren Evidenz wesentlich wahrscheinlicher, dass ich so wie jetzt auch vor 5 Minuten vor dieser Tastatur saß und diesen Brief begann, als dass ich zu dieser Zeit gerade probeweise im Fegefeuer schmorte oder als Osterhase mit Raumanzug auf dem Mars einherhoppelte, selbst dann wenn aus unabhängigen Quellen, beispielsweise Erleuchtungen anderer Personen oder heiligen Schriften für Letzteres etwas beigebracht werden kann, was als Evidenz deklariert wird (für meine Gedächtnislücken findet sich dann auch schon eine Erklärung). 

Bekanntermaßen gilt für die Naturwissenschaft als Wissenschaft vom Wirken natürlicher Prinzipien, dass sie Effekte supranaturaler Kräfte grundsätzlich ablehnen muss. Wer solche Kräfte ins Spiel bringt, setzt dem Fragen und Erklären ein - im Prinzip willkürliches - Ende. Man muss sich nur konkret für die eigene wissenschaftliche Praxis den Fall vorstellen, an einer bestimmten Stelle zu sagen: so, hier wirkt eine übernatürliche Kraft, Person, platonische Idee, Grundbauplan usw., die molekulare und mechanistische Analyse hat ein Ende, das müssen wir so hinnehmen und können nur noch bewundern usw. Dies hat nichts damit zu tun, dass man etwa die Erkenntnisgrenzen der Naturwissenschaft leugnet (diese sind offenkundig, ebenso wie ihr Komplement in Form populistisch auftrumpfender Grenzüberschreitungen, wie derzeit vor allem in den Neurowissenschaften und der Verhaltensbiologie). Es hat alleine damit zu tun, dass man innerhalb des Arbeitsbereichs der Naturwissenschaften keinen a priori erkenntnisbegrenzenden Eingriff seitens sachfremder Betrachtungsweisen akzeptiert. Schon die historische Entwicklung sollte zur Vorsicht mahnen, wenn es um vorgegebene Baupläne, irreduzible Komplexität und dergleichen geht. Man unterrichte sich beispielsweise über die Geschichte des Atombegriffs und die Auseinandersetzungen zum Ende des 19. Jahrhunderts. Ist nicht etwa ein Atom, wie schon das Wort sagt, per definitionem unteilbar und somit praktisch alle moderne Physik eigentlich Unsinn? 

Dass die Evolutionstheorie besonders betroffen ist, hat sicher auch mit ihrer scheinbaren Anschaulichkeit zu tun. Ich habe mich oft gefragt, warum die Adepten wissenschaftskritischer Haltungen sich nicht beispielsweise der Elementarteilchenphysik widmen, etwa die aktuellen Entwicklungen der Superstringtheorie kommentieren, oder die Frage der kosmologischen Konstante oder dunklen Materie, oder solche der Systembiologie, der algebraischen Zahlentheorie, Theorie der Berechenbarkeit usw. Neben naheliegenden psychologischen und historischen Faktoren steht zu vermuten, dass hier das Kompetenzdefizit allzu offenkundig ins Auge spränge. 

Ob die aktive Diskussion der noch offenen Fragen der Evolutionsbiologie, soweit ich sie aus molekular- und entwicklungsbiologischen Arbeiten, die ich selbst verwende, kenne, durch typologische Konzepte gefördert wird, steht zu bezweifeln. Diese Konzepte haben über lange Zeit die Diskussion bestimmt und de facto gelähmt, auch noch lange nach Darwins zentraler Veröffentlichung im Jahre 1859. Sie könnten vielleicht auch heute ein gewisses heuristisches Hilfsmittel sein (ebenso wie teleologische Sprechweisen, die ich selbst verwende), sind aber sicher nicht erkenntnisfördernd, wenn sie unter platonistischen oder theologischen Vorzeichen, also essentialistisch begriffen werden, statt als intermediäre Stufen zu weiterem Fragen, und das heißt weiterer Analyse. 

In dieser Hinsicht sind einige außerordentlich aktive und zugleich höchst anspruchsvolle Forschungsgebiete relevant, wie die Analyse (a) der vielfältigen Interaktionen innerhalb des Genoms, (b) der internen, logischen und chemischen Restriktionen funktionsfähiger Systeme inklusive der oft unterschätzten multiplen physikalischen Randbedingungen, (c) der Konstruktion und des Zusammenwirkens genetischer und regulatorischer Module, (d) der Vielfalt epigenetischer Regulationen, welche die eigentliche Interaktion von Gen und Umwelt vermitteln, sowie (e) systembiologische Analysen und Simulationen. Hierdurch sind enorme Fortschritte im Verständnis ebenso der phylogenetischen wie der ontogenetischen Entwicklung von Organismen und Organen zu erwarten. 

Die Erkenntnisse werden nicht nur Fragen der Makroevolution betreffen (die ja gewöhnlich in besonderem Maße als fragwürdig dargestellt wird), sondern auch erhebliche Implikationen für die Rekonstitution von Organen und die (im seriösen Sinne) regenerative Medizin haben. Dort steht man beispielsweise dem Problem gegenüber, dass die natürliche Reparatur oder vielmehr Reparaturversuche beim Erwachsenen eben oft nicht zu einer Rekonstitution des Organs führen, und dies hat vermutlich mit der Nichtwiederabrufbarkeit morphogenetischer Module zu tun, die ihrerseits in ihren internen und externen (organismusbedingten) funktionalen Restriktionen zu suchen ist. 

Dies erwähne ich, um zu verdeutlichen, dass man die temporäre Selbststabilisierung gewisser regulatorischer (und damit zusammenhängend morphologischer) Module zwar typologisch benennen kann, dies aber erkenntnismäßig schwerlich weiterhilft, vor allem dann nicht, wenn man den Übergang von einem Modul in einen anderen und die Entstehung von Komplexität verstehen, d.h. durch basale Mechanismen begreifen möchte und nicht bloß durch Verabsolutierung als platonisches eidos o.ä. konstatiert. Auch wenn die genannten Forschungen nach aller Wahrscheinlichkeit Design-Argumenten den Boden weiter entziehen werden, so legt die Erfahrung die Vermutung nahe, dass dies bei deren Adepten insofern keine Konsequenzen haben wird, als sich sogleich ein anderes Argument finden wird, um die immer gleiche These aufrechtzuerhalten. 

Die Personen, die Herr Kutschera kritisiert, favorisieren allesamt bezüglich der Evolution eine a priori erkenntnislimitierende Betrachtungsweise, gleich ob diese die Entstehung des Lebens betrifft oder in einem späteren Stadium zum Tragen kommt. Entsprechend wird die Placierung von Arbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften benutzt, um ein anderes Geschäft als das der Wissenschaft zu betreiben; es ist schlichtweg naiv, dies zu übersehen. Man könnte es nun dabei bewenden lassen und sagen: sich damit auseinandersetzen ist der Mühe nicht wert, und die Wissenschaft geht ohnedies ihre eigenen Wege. Dies ist die Haltung, die ich normalerweise einnehme und in diesem Brief das erste Mal durchbreche, und zwar deshalb, weil ich annehme, dass der "Freitag" gewisse intellektuelle Standards verfolgt. 

Ziel des Hineindrängens in wissenschaftliche Zeitschriften ist also nicht die Wissenschaft (dort hat man eher nichts Zukunftsweisendes zu vermelden, s.o.), sondern die Wirkung auf die Öffentlichkeit, die nicht kompetent ist, die Sachlage zu beurteilen. Bei ihr soll ungeachtet der unterschiedlichen Qualität der Evidenz der Eindruck dauerhaft offener Fragen erweckt werden, damit für die eigene Ideologie Platz ist. So kann ich natürlich jederzeit für eine offene und nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft ungeklärte Frage halten, ob ein Bleistift, den ich in die Hand nehme und loslasse, dann auch wirklich fallen wird. Und in der Tat: bevor ich ihn loslasse, weiß ich es nicht mit absoluter Sicherheit; Gott könnte es gerade jetzt anders bestimmen, oder eben auch der Zufall. Dies schafft dann sogleich beispielsweise einer Art Okkasionalismus im weitesten Sinne Raum. Das Beispiel zeigt, dass eine wissenschaftskritische Attitüde selbst für eine bestens gesicherte Theorie wie die Gravitationstheorie bei Bedarf denkbar billig zu haben ist. 

Dass Wissenschaft hypothetisch ist, weiß der, der selbst wissenschaftlich tätig ist, am besten. Wie oft ist man nicht gezwungen, Arbeitshypothesen zu revidieren, wird durch Experimente widerlegt, muss feststellen, wesentliche Einflussfaktoren übersehen zu haben usw.! Dazu allerdings gehört Kompetenz, die sich im Urteilsvermögen und einem umfassenden, fundierten Überblick manifestiert. Der atemberaubende Mangel an beidem hält allerdings viele Laien nicht vom Urteilen ab, insbesondere wenn sie durch entsprechende Medienarbeit präpariert sind. Besonders verblüffend ist oft für den Wissenschaftler, der mühsam über viele Jahre arbeitet, um auch nur bescheidene und womöglich dann wieder zu revidierende Erkenntnisse zu gewinnen, die Paarung aus Sicherheit des Urteils und inhaltlicher Defizienz, ganz gleich welche Richtung vertreten wird. Mir ist dies aus meinem eigenen Arbeitsgebiet der Umweltmedizin bestens bekannt. 

Wenn man einen Blick auf die U.S.A. wirft, sieht man leicht, dass in der öffentlichen Wahrnehmung die wissenschaftliche Position zur Evolution keineswegs allgemein akzeptiert oder tief verankert ist, und ähnliche, wenngleich meist weniger extreme Umfragedaten finden sich in europäischen Ländern inklusive Deutschland. Dies hat nach aller Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Fanatismus der Evolutionsbiologen zu tun, sondern mit einer verbreiteten Mischung aus geistiger Bequemlichkeit und sozial verankertem Urteils- oder Profilierungsbedürfnis, die täglich in reichem Maße durch die Massenmedien bedient und kultiviert wird. Diese Attitüde zu befördern, scheint mir nicht ein konsistent vertretbares Ziel einer Zeitschrift zu sein, die sich nach meiner Wahrnehmung als aufklärerisch versteht. Es geht mir an dieser Stelle um die Integrität und Rolle einer naturwissenschaftlichen Disziplin und Theorie, für die der "body of evidence" "overwhelming" ist, und das um so mehr, als der Evolutionsbiologie mehr als anderen Zweigen der Wissenschaft eine gewisse Unabhängigkeit von den derzeit so starken ökonomischen Interessen eignet; sie ist mehr als andere Zweige noch "reine Wissenschaft" und primär ein Erkenntnisunterfangen. 

Angesichts der genannten Tatsachen den Ausdruck "McCarthy" anzuwenden, mag dem Bedürfnis nach journalistischer Griffigkeit geschuldet sein, ist in der Sache jedoch absurd, wenn man die extrem limitierte Reichweite der Interventionen von Herrn Kutschera bedenkt, der mit Sicherheit nicht den besagten Herren den Mund verbieten, wohl aber verhindern möchte, dass ihre Thesen unter falscher Flagge segeln und die seriöse Forschung gewissermaßen kontaminieren. Das mag man leicht kleinlich oder fanatisch finden oder einem Reinlichkeits- oder Verfolgungswahn zuschreiben; Ihr Beitrag weist ja vor allem an seinem Ende in diese Richtung. Wenn allerdings Wissenschaft als seriöse, glaubwürdige und ernstzunehmende geistige Anstrengung bestehen will, kann sie nicht offen sein für alles, sondern nur für Ansätze, die ihren Grundprinzipien genügen. 

Herr Kutschera exponiert sich, indem er diese Prinzipien verteidigt und ihre Einhaltung einklagt. Dies kann durchaus unappetitlich erscheinen, vor allem dann, wenn die Methode des Gegners es erfordert, einen sehr bestimmten Ton anzuschlagen. Einer Öffentlichkeit, die gerne mit denkbar weicher Logik operiert und alles für irgendwie diskutabel hält, mag das ungefällig sein. Dass von einem, wie ich annehme, außerhalb der Wissenschaft gelegenen, journalistischen Standpunkt aus ein solches Verhalten, das die Integrität und Qualität einer wissenschaftlichen Disziplin sichern will, intolerant erscheint, mag ebenfalls wohl sein. Analoges manifestierte sich bei Herrn Rahmstorf vom PIK in Potdam bezüglich seiner Kritik an einer Reihe von Would-Be-Klimaexperten. Wenn Sie als Mathematiker aber beispielsweise Schlussweisen zulassen, die nicht von der Logik (wohl aber vielleicht von einem Glauben oder der Denkgewohnheit vieler Menschen) gedeckt sind, dann ist die Mathematik als Disziplin erledigt, denn in diesem Fall lässt sich jede beliebige Behauptung sogar "streng" ableiten. Wer Toleranz zwecks fruchtbarer Diskussion einfordert, muss sich fragen lassen, wo die Grenze zu ziehen ist. 

Warum sollten Adepten telekinetischen Tischerückens und Gabelbiegens nicht in physikalischen Fachzeitschriften publizieren? Kann es nicht sein, dass sie wertvolle Hinweise auf unentdeckte kosmische Kräfte vorbringen? Hinweise, die beispielsweise sogar die offenbar beschleunigte Expansion des Universums erklären könnten (z.B. telekinetische Aktion eines noch unbekannten Wesens oder auch der vereinten, wenngleich unbewussten Anstrengung der Erdbewohner)? Warum sollten Anhänger der Hohlerde-Theorie nicht in geologischen Zeitschriften publizieren? Ist nicht, da Bohrungen allenfalls bis ca. 10 km Tiefe reichen, alle Inferenz auf den inneren Aufbau der Erde indirekt und damit völlig hypothetisch? Und ist nicht eine Hypothese so gut wie die andere? Kann nicht die Hohlerde-Theorie manches ebensogut erklären wie die klassische Geophysik? Und wenn sie etwa durch die Veränderung der Erdmasseannahmen unter anderem eine Revision des Newtonschen Gravitationsgesetzes erzwingt, kann das nicht wissenschaftlich fruchtbar sein, da doch Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie das auch erzwang? Vielleicht können wir folgern, dass auch die Sonne hohl ist, somit eine geringere Masse hat und somit die gesamte Kernphysik revidiert werden muss, da ja die Kernfusion dann nicht wie bislang gedacht ablaufen kann? Kann uns das nicht zu der von vielen theoretischen Physikern gesuchten Grand Unified Theory leiten? Warum nicht mit einer komplexen Erkrankung zu einem Arzt gehen, der den diagnostischen Prozess an einer Stelle abbricht, um mitzuteilen, dass er aufgrund einer - sei es durch unmittelbare Eingebung, sei es durch ein heiliges Buch - vermittelten Erkenntnis sowohl die Erkrankung kennt als auch ein sicheres Heilmittel weiß, und der dann - konfrontriert mit der Tatsache, dass seine Kollegen weitere Methoden anwenden und zu anderen Ergebnissen kommen - dies mit der Pluralität der Ansätze und dem Hypothetischen aller Wissenschaft erklärt? Und ist nicht Ersteres in Anbetracht der Bedeutung psychologischer Faktoren sogar zufriedenstellender, denn die Mehrzahl der Patienten honoriert die Selbstsicherheit eines Arztes höher als eine differenzierte, selbstkritische Haltung (lieber eine klare, mit Überzeugung vorgetragene Diagnose als eine, wenngleich korrekte, Beschreibung einer komplexen oder unsicheren Situation)? Warum nicht in ein Flugzeug steigen, dessen Konstruktion teils auf alternativen, spirituellen, sogar energiesparenden Prinzipien basiert, welche allerdings gesicherte Erkenntnisse der Materialwissenschaft und Aerodynamik ignorieren? Sei's drum, erhebt uns nicht der Geist und nicht etwa die Materie? 

Es scheint mir bezeichnend genug, dass im Alltag die wissenschaftliche Rationalität gerne akzeptiert wird, wenn es um das unmittelbar greifbare persönliche Wohl und Weh geht, jedoch oft unter der Prämisse einer kritischen Attitüde dort in Frage gestellt wird, wo keine unmittelbaren negativen Folgen zu befürchten sind. Sollte man nicht dann, wenn man kritisch prüft, was einem an Thesen wo und wie auch immer dargeboten wird, sorgfältig darauf achten, dass man nicht aus lauter kritischer Distanz und Pluralitätsakzeptanz - wenigstens partiell - der Irrationalität das Wort redet? Sollte man sich bei einer kritischen Attitüde nicht auch immer selbst dahingehend beobachten, inwieweit man nicht der Verführung eines sozialen Distinktionsgewinns oder umgekehrt eines Konformitätsgewinns innerhalb einer mehr homogenen sozialen Gemeinschaft verfällt? Es könnte etwas mit der Evolution menschlicher Intelligenz zu tun haben, die für die Verfolgung persönlicher oder kleingruppenbezogener unmittelbarer Vorteile, nicht aber übergreifendes Denken (z.B. Wissenschaft) optimiert wurde. Wie Ernst Mayr bezüglich der Suche nach extraterrestrischer Intelligenz einmal schrieb: Should we perhaps organize a search for terrestrial intelligence? Man mag dies als Arroganz empfinden, allerdings ändert das nichts. Wer wegen einer schwierigen Herzoperation einen Chirurgen aufsucht, wird auch eine bestens fundierte Kompetenz erwarten und wenig geneigt sein, auf womöglich spirituell, politisch oder anderweitig motivierte Herzkritiker zu hören, die alles ganz anders sehen, allerdings nichts an substantieller, prüfbarer Evidenz vorzuweisen haben. Sollte nicht in der nicht unmittelbar angewandten Wissenschaft das Gleiche gelten? 

Wenn man sich über die derzeitigen Forschungsaktivitäten zur Organisation komplexer biologischer Systeme, das darin vorherrschende geistige Niveau und die darin angewandten Methoden (s.o.) informiert, wird erkennbar, dass die moderne Forschung längst in konzeptionellen Gefilden operiert, bei denen durch althergebrachte, etwa typologische Konzepte, gleich in welcher Verkleidung, kein substantieller Erkenntnisgewinn zu erwarten steht; schon gar nicht, wenn diese Konzepte letztlich auf eine wissenschaftliche Stillstellung abzielen. Dies gilt für theologisch motivierte nicht anders als beispielsweise für die eine Zeitlang modernen vitalistischen Ansätze. Insofern wird in der Tat ein "Streit der Meinungen" vermutlich nicht zustandekommen, dies allerdings nicht wegen dogmatischer Verhärtung der Evolutionsbiologie, wie Sie insinuieren, sondern wegen des Leichtgewichts der anderen Seite (ich jedenfalls kann darin nichts anderes erkennen). 

Auf der Basis dieser Überlegungungen finde ich es nicht etwa bedauerlich, dass Sie das Wort dafür ergreifen, dass die genannten Evolutionskritiker ihre Meinung verbreiten können - im Gegenteil, sie sollen das selbstverständlich dürfen, und sie sind nach meiner Wahrnehmung genug von sich überzeugt und mit genügend Ressourcen versehen, sich das auch nicht nehmen zu lassen. Bedauerlich und in der Sache völlig inadäquat allerdings erscheint mir, dass Sie am Ende Ihres Beitrages in vollem Ernst deren Thesen als potentiell fruchtbaren, aber ignorierten oder unterdrückten Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion ausgeben. Das scheint mir so, als ob Sie beispielsweise theoretischen Elementarteilchenphysikern raten, doch das Gespräch mit katholischen Neoscholastikern zu suchen und die aristotelische Formen- und Substanztheorie noch einmal zu bedenken, um die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Und noch bedauerlicher finde ich, dass Sie Herrn Kutschera publikumswirksam denunzieren, denn das Wort "McCarthy" zieht ja immer, vor allem im politisch-kritischen Ambiente. Haben Sie mit Herrn Kutschera über seine Beweggründe und Argumente im Detail gesprochen? Und bauen Sie darauf, dass die vermutlich in ihrer großen Mehrheit nicht spezifisch vorgebildeten Leser sich auf der Basis Ihres Beitrags ein fundiertes und vor allem auch faires Urteil bilden können? Fairness kann ja auch die Ablehnung eines sachlich unberechtigten Geltungsanspruchs bedeuten, und zwar exakt aufgrund "wissenschaftlicher Tugend", wie es hier der Fall ist. 

Wenn auch dieser Kommentar deutlich länger und ausgreifender geworden ist als beabsichtigt, so hoffe ich doch, meine Einwände gegen Ihren Beitrag auf diese Weise hinreichend verständlich und in einem nachvollziehbaren Kontext dargestellt zu haben. 

Mit freundlichen Grüßen 

Priv. Doz. Dr. Rudolf A. Jörres 

Experimentelle Umweltmedizin 

Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin 

Ludwig-Maximilians-Universität München.

  

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P.S.


Ich kenne Herrn Kutschera nicht persönlich,  werde ihm aber nachrichtlich eine Kopie  dieses Kommentars zukommen lassen.

     

          

     

   

                        

           


© AG Evolutionsbiologie des VdBiol.          02.07.2008