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Kommentar
Stellungnahme zum Artikel "McCarthy der
Wissenschaft"
Priv.-Doz.
Dr. Rudolf A. Jörres
Nachfolgender
Beitrag ist ein Kommentar, der am 26.06.2008 um 21:49 Uhr per E-mail an
die Redaktion der Zeitschrift "Freitag" gesandt wurde. Anlass war ein
Artikel von Dr. Benno Kirsch im Kulturteil der Internet-Version
dieser Zeitschrift (Nr. 26). Laut Auskunft der Redaktion konnte der
Kommentar aufgrund seiner Länge nicht als Leserbrief gedruckt
werden. Er wurde uns jedoch auf unsere Bitte hin vom Verfasser zur
Verfügung gestellt, da eine Kopie nachrichtlich an Prof.
Kutschera gegangen war. Wenn der Kommentar auch in der Tat für
einen abdruckbaren Leserbrief zu lang ist, so bietet er doch umgekehrt
den Vorteil einer umfassenden Argumentation und Perspektive. Wir
möchten ihn daher an dieser Stelle bringen.
Sehr geehrte Redaktion, sehr
geehrter Herr Kirsch,
mit Interesse nahm ich Ihren
Artikel bezüglich Herrn Kutscheras in der von mir durchaus
geschätzten Zeitschrift "Freitag" wahr. Diesen Beitrag
allerdings finde ich befremdlich und habe den Verdacht, dass hier unter
dem Leitmotiv einer - an sich löblichen - kritischen und
skeptischen Haltung gegenüber etablierten Meinungen, auch
solchen der Wissenschaft, de facto ein intellektuelles Selbstopfer
betrieben oder nahegelegt wird. Und dies zugunsten
fragwürdiger geistiger Attitüden und solcher
Personen, die man mit hoher Wahrscheinlichkeit weder als kritisch und
skeptisch im Sinne einer persönlichen Grundhaltung noch als
aus der großen Zahl herausragende, originelle und in Zukunft
erwartungsgemäß signifikant zum Erkenntnisgewinn
beitragende Vertreter der Naturwissenschaft beschreiben kann.
Die Arbeitsweise und innere Logik
naturwissenschaftlicher Disziplinen darzustellen ist ohne Zweifel ein
komplexes Unterfangen. Dies ist jedem Wissenschaftler bekannt, der
seine eigene tägliche Praxis und Verfahrensweise, multiple
Evidenz abzuwägen, kritische Einwände antizipatorisch
aufzubringen und zu berücksichtigen usw., reflektiert und
diese beispielsweise mit den Vorstellungen mancher
Wissenschaftstheoretiker vergleicht.
In besonderem Maße gilt
dies für die Evolutionsbiologie, da hier neben dem
funktionalen das historische Moment und der diesem
gemäß einem naturalistischen Konzept
inhärente Zufall zum Tragen kommen und experimentelle
Rekonstruktionen allenfalls in kleinstem Maßstab bzw. dem
Prinzip nach möglich sind. Insofern ist die Evolutionsbiologie
weitgehend eine historische Rekonstruktion oder, wenn man so will,
Erzählung. Allerdings sind verschiedene historische
Erzählungen in der Regel durch derart unterschiedliche Evidenz
gestützt, dass es nicht mehr als eine intellektuelle Spielerei
ist, sie für prinzipiell gleichrangig oder auch nur
vergleichbar zu halten. Dies gilt auch für das
tägliche Leben. Es ist aufgrund aller mir verfügbaren
Evidenz wesentlich wahrscheinlicher, dass ich so wie jetzt auch vor 5
Minuten vor dieser Tastatur saß und diesen Brief begann, als
dass ich zu dieser Zeit gerade probeweise im Fegefeuer schmorte oder
als Osterhase mit Raumanzug auf dem Mars einherhoppelte, selbst dann
wenn aus unabhängigen Quellen, beispielsweise Erleuchtungen
anderer Personen oder heiligen Schriften für Letzteres etwas
beigebracht werden kann, was als Evidenz deklariert wird (für
meine Gedächtnislücken findet sich dann auch schon
eine Erklärung).
Bekanntermaßen gilt
für die Naturwissenschaft als Wissenschaft vom Wirken
natürlicher Prinzipien, dass sie Effekte supranaturaler
Kräfte grundsätzlich ablehnen muss. Wer solche
Kräfte ins Spiel bringt, setzt dem Fragen und
Erklären ein - im Prinzip willkürliches - Ende. Man
muss sich nur konkret für die eigene wissenschaftliche Praxis
den Fall vorstellen, an einer bestimmten Stelle zu sagen: so, hier
wirkt eine übernatürliche Kraft, Person, platonische
Idee, Grundbauplan usw., die molekulare und mechanistische Analyse hat
ein Ende, das müssen wir so hinnehmen und können nur
noch bewundern usw. Dies hat nichts damit zu tun, dass man etwa die
Erkenntnisgrenzen der Naturwissenschaft leugnet (diese sind
offenkundig, ebenso wie ihr Komplement in Form populistisch
auftrumpfender Grenzüberschreitungen, wie derzeit vor allem in
den Neurowissenschaften und der Verhaltensbiologie). Es hat alleine
damit zu tun, dass man innerhalb des Arbeitsbereichs der
Naturwissenschaften keinen a priori erkenntnisbegrenzenden Eingriff
seitens sachfremder Betrachtungsweisen akzeptiert. Schon die
historische Entwicklung sollte zur Vorsicht mahnen, wenn es um
vorgegebene Baupläne, irreduzible Komplexität und
dergleichen geht. Man unterrichte sich beispielsweise über die
Geschichte des Atombegriffs und die Auseinandersetzungen zum Ende des
19. Jahrhunderts. Ist nicht etwa ein Atom, wie schon das Wort sagt, per
definitionem unteilbar und somit praktisch alle moderne Physik
eigentlich Unsinn?
Dass die Evolutionstheorie
besonders betroffen ist, hat sicher auch mit ihrer scheinbaren
Anschaulichkeit zu tun. Ich habe mich oft gefragt, warum die Adepten
wissenschaftskritischer Haltungen sich nicht beispielsweise der
Elementarteilchenphysik widmen, etwa die aktuellen Entwicklungen der
Superstringtheorie kommentieren, oder die Frage der kosmologischen
Konstante oder dunklen Materie, oder solche der Systembiologie, der
algebraischen Zahlentheorie, Theorie der Berechenbarkeit usw. Neben
naheliegenden psychologischen und historischen Faktoren steht zu
vermuten, dass hier das Kompetenzdefizit allzu offenkundig ins Auge
spränge.
Ob die aktive Diskussion der noch
offenen Fragen der Evolutionsbiologie, soweit ich sie aus molekular-
und entwicklungsbiologischen Arbeiten, die ich selbst verwende, kenne,
durch typologische Konzepte gefördert wird, steht zu
bezweifeln. Diese Konzepte haben über lange Zeit die
Diskussion bestimmt und de facto gelähmt, auch noch lange nach
Darwins zentraler Veröffentlichung im Jahre 1859. Sie
könnten vielleicht auch heute ein gewisses heuristisches
Hilfsmittel sein (ebenso wie teleologische Sprechweisen, die ich selbst
verwende), sind aber sicher nicht erkenntnisfördernd, wenn sie
unter platonistischen oder theologischen Vorzeichen, also
essentialistisch begriffen werden, statt als intermediäre
Stufen zu weiterem Fragen, und das heißt weiterer
Analyse.
In dieser Hinsicht sind einige
außerordentlich aktive und zugleich höchst
anspruchsvolle Forschungsgebiete relevant, wie die Analyse (a) der
vielfältigen Interaktionen innerhalb des Genoms, (b) der
internen, logischen und chemischen Restriktionen
funktionsfähiger Systeme inklusive der oft
unterschätzten multiplen physikalischen Randbedingungen, (c)
der Konstruktion und des Zusammenwirkens genetischer und
regulatorischer Module, (d) der Vielfalt epigenetischer Regulationen,
welche die eigentliche Interaktion von Gen und Umwelt vermitteln, sowie
(e) systembiologische Analysen und Simulationen. Hierdurch sind enorme
Fortschritte im Verständnis ebenso der phylogenetischen wie
der ontogenetischen Entwicklung von Organismen und Organen zu
erwarten.
Die Erkenntnisse werden nicht nur
Fragen der Makroevolution betreffen (die ja gewöhnlich in
besonderem Maße als fragwürdig dargestellt wird),
sondern auch erhebliche Implikationen für die Rekonstitution
von Organen und die (im seriösen Sinne) regenerative Medizin
haben. Dort steht man beispielsweise dem Problem gegenüber,
dass die natürliche Reparatur oder vielmehr Reparaturversuche
beim Erwachsenen eben oft nicht zu einer Rekonstitution des Organs
führen, und dies hat vermutlich mit der
Nichtwiederabrufbarkeit morphogenetischer Module zu tun, die ihrerseits
in ihren internen und externen (organismusbedingten) funktionalen
Restriktionen zu suchen ist.
Dies erwähne ich, um zu
verdeutlichen, dass man die temporäre Selbststabilisierung
gewisser regulatorischer (und damit zusammenhängend
morphologischer) Module zwar typologisch benennen kann, dies aber
erkenntnismäßig schwerlich weiterhilft, vor allem
dann nicht, wenn man den Übergang von einem Modul in einen
anderen und die Entstehung von Komplexität verstehen, d.h.
durch basale Mechanismen begreifen möchte und nicht
bloß durch Verabsolutierung als platonisches eidos
o.ä. konstatiert. Auch wenn die genannten Forschungen nach
aller Wahrscheinlichkeit Design-Argumenten den Boden weiter entziehen
werden, so legt die Erfahrung die Vermutung nahe, dass dies bei deren
Adepten insofern keine Konsequenzen haben wird, als sich sogleich ein
anderes Argument finden wird, um die immer gleiche These
aufrechtzuerhalten.
Die Personen, die Herr Kutschera
kritisiert, favorisieren allesamt bezüglich der Evolution eine
a priori erkenntnislimitierende Betrachtungsweise, gleich ob diese die
Entstehung des Lebens betrifft oder in einem späteren Stadium
zum Tragen kommt. Entsprechend wird die Placierung von Arbeiten in
wissenschaftlichen Zeitschriften benutzt, um ein anderes
Geschäft als das der Wissenschaft zu betreiben; es ist
schlichtweg naiv, dies zu übersehen. Man könnte es
nun dabei bewenden lassen und sagen: sich damit auseinandersetzen ist
der Mühe nicht wert, und die Wissenschaft geht ohnedies ihre
eigenen Wege. Dies ist die Haltung, die ich normalerweise einnehme und
in diesem Brief das erste Mal durchbreche, und zwar deshalb, weil ich
annehme, dass der "Freitag" gewisse intellektuelle Standards
verfolgt.
Ziel des Hineindrängens
in wissenschaftliche Zeitschriften ist also nicht die Wissenschaft
(dort hat man eher nichts Zukunftsweisendes zu vermelden, s.o.),
sondern die Wirkung auf die Öffentlichkeit, die nicht
kompetent ist, die Sachlage zu beurteilen. Bei ihr soll ungeachtet der
unterschiedlichen Qualität der Evidenz der Eindruck dauerhaft
offener Fragen erweckt werden, damit für die eigene Ideologie
Platz ist. So kann ich natürlich jederzeit für eine
offene und nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft
ungeklärte Frage halten, ob ein Bleistift, den ich in die Hand
nehme und loslasse, dann auch wirklich fallen wird. Und in der Tat:
bevor ich ihn loslasse, weiß ich es nicht mit absoluter
Sicherheit; Gott könnte es gerade jetzt anders bestimmen, oder
eben auch der Zufall. Dies schafft dann sogleich beispielsweise einer
Art Okkasionalismus im weitesten Sinne Raum. Das Beispiel zeigt, dass
eine wissenschaftskritische Attitüde selbst für eine
bestens gesicherte Theorie wie die Gravitationstheorie bei Bedarf
denkbar billig zu haben ist.
Dass Wissenschaft hypothetisch
ist, weiß der, der selbst wissenschaftlich tätig
ist, am besten. Wie oft ist man nicht gezwungen, Arbeitshypothesen zu
revidieren, wird durch Experimente widerlegt, muss feststellen,
wesentliche Einflussfaktoren übersehen zu haben usw.! Dazu
allerdings gehört Kompetenz, die sich im
Urteilsvermögen und einem umfassenden, fundierten
Überblick manifestiert. Der atemberaubende Mangel an beidem
hält allerdings viele Laien nicht vom Urteilen ab,
insbesondere wenn sie durch entsprechende Medienarbeit
präpariert sind. Besonders verblüffend ist oft
für den Wissenschaftler, der mühsam über
viele Jahre arbeitet, um auch nur bescheidene und womöglich
dann wieder zu revidierende Erkenntnisse zu gewinnen, die Paarung aus
Sicherheit des Urteils und inhaltlicher Defizienz, ganz gleich welche
Richtung vertreten wird. Mir ist dies aus meinem eigenen Arbeitsgebiet
der Umweltmedizin bestens bekannt.
Wenn man einen Blick auf die
U.S.A. wirft, sieht man leicht, dass in der öffentlichen
Wahrnehmung die wissenschaftliche Position zur Evolution keineswegs
allgemein akzeptiert oder tief verankert ist, und ähnliche,
wenngleich meist weniger extreme Umfragedaten finden sich in
europäischen Ländern inklusive Deutschland. Dies hat
nach aller Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Fanatismus der
Evolutionsbiologen zu tun, sondern mit einer verbreiteten Mischung aus
geistiger Bequemlichkeit und sozial verankertem Urteils- oder
Profilierungsbedürfnis, die täglich in reichem
Maße durch die Massenmedien bedient und kultiviert wird.
Diese Attitüde zu befördern, scheint mir nicht ein
konsistent vertretbares Ziel einer Zeitschrift zu sein, die sich nach
meiner Wahrnehmung als aufklärerisch versteht. Es geht mir an
dieser Stelle um die Integrität und Rolle einer
naturwissenschaftlichen Disziplin und Theorie, für die der
"body of evidence" "overwhelming" ist, und das um so mehr, als der
Evolutionsbiologie mehr als anderen Zweigen der Wissenschaft eine
gewisse Unabhängigkeit von den derzeit so starken
ökonomischen Interessen eignet; sie ist mehr als andere Zweige
noch "reine Wissenschaft" und primär ein
Erkenntnisunterfangen.
Angesichts der genannten Tatsachen
den Ausdruck "McCarthy" anzuwenden, mag dem Bedürfnis nach
journalistischer Griffigkeit geschuldet sein, ist in der Sache jedoch
absurd, wenn man die extrem limitierte Reichweite der Interventionen
von Herrn Kutschera bedenkt, der mit Sicherheit nicht den besagten
Herren den Mund verbieten, wohl aber verhindern möchte, dass
ihre Thesen unter falscher Flagge segeln und die seriöse
Forschung gewissermaßen kontaminieren. Das mag man leicht
kleinlich oder fanatisch finden oder einem Reinlichkeits- oder
Verfolgungswahn zuschreiben; Ihr Beitrag weist ja vor allem an seinem
Ende in diese Richtung. Wenn allerdings Wissenschaft als
seriöse, glaubwürdige und ernstzunehmende geistige
Anstrengung bestehen will, kann sie nicht offen sein für
alles, sondern nur für Ansätze, die ihren
Grundprinzipien genügen.
Herr Kutschera exponiert sich,
indem er diese Prinzipien verteidigt und ihre Einhaltung einklagt. Dies
kann durchaus unappetitlich erscheinen, vor allem dann, wenn die
Methode des Gegners es erfordert, einen sehr bestimmten Ton
anzuschlagen. Einer Öffentlichkeit, die gerne mit denkbar
weicher Logik operiert und alles für irgendwie diskutabel
hält, mag das ungefällig sein. Dass von einem, wie
ich annehme, außerhalb der Wissenschaft gelegenen,
journalistischen Standpunkt aus ein solches Verhalten, das die
Integrität und Qualität einer wissenschaftlichen
Disziplin sichern will, intolerant erscheint, mag ebenfalls wohl sein.
Analoges manifestierte sich bei Herrn Rahmstorf vom PIK in Potdam
bezüglich seiner Kritik an einer Reihe von
Would-Be-Klimaexperten. Wenn Sie als Mathematiker aber beispielsweise
Schlussweisen zulassen, die nicht von der Logik (wohl aber vielleicht
von einem Glauben oder der Denkgewohnheit vieler Menschen) gedeckt
sind, dann ist die Mathematik als Disziplin erledigt, denn in diesem
Fall lässt sich jede beliebige Behauptung sogar "streng"
ableiten. Wer Toleranz zwecks fruchtbarer Diskussion einfordert, muss
sich fragen lassen, wo die Grenze zu ziehen ist.
Warum sollten Adepten
telekinetischen Tischerückens und Gabelbiegens nicht in
physikalischen Fachzeitschriften publizieren? Kann es nicht sein, dass
sie wertvolle Hinweise auf unentdeckte kosmische Kräfte
vorbringen? Hinweise, die beispielsweise sogar die offenbar
beschleunigte Expansion des Universums erklären
könnten (z.B. telekinetische Aktion eines noch unbekannten
Wesens oder auch der vereinten, wenngleich unbewussten Anstrengung der
Erdbewohner)? Warum sollten Anhänger der Hohlerde-Theorie
nicht in geologischen Zeitschriften publizieren? Ist nicht, da
Bohrungen allenfalls bis ca. 10 km Tiefe reichen, alle Inferenz auf den
inneren Aufbau der Erde indirekt und damit völlig
hypothetisch? Und ist nicht eine Hypothese so gut wie die andere? Kann
nicht die Hohlerde-Theorie manches ebensogut erklären wie die
klassische Geophysik? Und wenn sie etwa durch die Veränderung
der Erdmasseannahmen unter anderem eine Revision des Newtonschen
Gravitationsgesetzes erzwingt, kann das nicht wissenschaftlich
fruchtbar sein, da doch Einsteins Allgemeine
Relativitätstheorie das auch erzwang? Vielleicht
können wir folgern, dass auch die Sonne hohl ist, somit eine
geringere Masse hat und somit die gesamte Kernphysik revidiert werden
muss, da ja die Kernfusion dann nicht wie bislang gedacht ablaufen
kann? Kann uns das nicht zu der von vielen theoretischen Physikern
gesuchten Grand Unified Theory leiten? Warum nicht mit einer komplexen
Erkrankung zu einem Arzt gehen, der den diagnostischen Prozess an einer
Stelle abbricht, um mitzuteilen, dass er aufgrund einer - sei es durch
unmittelbare Eingebung, sei es durch ein heiliges Buch - vermittelten
Erkenntnis sowohl die Erkrankung kennt als auch ein sicheres Heilmittel
weiß, und der dann - konfrontriert mit der Tatsache, dass
seine Kollegen weitere Methoden anwenden und zu anderen Ergebnissen
kommen - dies mit der Pluralität der Ansätze und dem
Hypothetischen aller Wissenschaft erklärt? Und ist nicht
Ersteres in Anbetracht der Bedeutung psychologischer Faktoren sogar
zufriedenstellender, denn die Mehrzahl der Patienten honoriert die
Selbstsicherheit eines Arztes höher als eine differenzierte,
selbstkritische Haltung (lieber eine klare, mit Überzeugung
vorgetragene Diagnose als eine, wenngleich korrekte, Beschreibung einer
komplexen oder unsicheren Situation)? Warum nicht in ein Flugzeug
steigen, dessen Konstruktion teils auf alternativen, spirituellen,
sogar energiesparenden Prinzipien basiert, welche allerdings gesicherte
Erkenntnisse der Materialwissenschaft und Aerodynamik ignorieren? Sei's
drum, erhebt uns nicht der Geist und nicht etwa die Materie?
Es scheint mir bezeichnend genug,
dass im Alltag die wissenschaftliche Rationalität gerne
akzeptiert wird, wenn es um das unmittelbar greifbare
persönliche Wohl und Weh geht, jedoch oft unter der
Prämisse einer kritischen Attitüde dort in Frage
gestellt wird, wo keine unmittelbaren negativen Folgen zu
befürchten sind. Sollte man nicht dann, wenn man kritisch
prüft, was einem an Thesen wo und wie auch immer dargeboten
wird, sorgfältig darauf achten, dass man nicht aus lauter
kritischer Distanz und Pluralitätsakzeptanz - wenigstens
partiell - der Irrationalität das Wort redet? Sollte man sich
bei einer kritischen Attitüde nicht auch immer selbst
dahingehend beobachten, inwieweit man nicht der Verführung
eines sozialen Distinktionsgewinns oder umgekehrt eines
Konformitätsgewinns innerhalb einer mehr homogenen sozialen
Gemeinschaft verfällt? Es könnte etwas mit der
Evolution menschlicher Intelligenz zu tun haben, die für die
Verfolgung persönlicher oder kleingruppenbezogener
unmittelbarer Vorteile, nicht aber übergreifendes Denken (z.B.
Wissenschaft) optimiert wurde. Wie Ernst Mayr bezüglich der
Suche nach extraterrestrischer Intelligenz einmal schrieb: Should we
perhaps organize a search for terrestrial intelligence? Man mag dies
als Arroganz empfinden, allerdings ändert das nichts. Wer
wegen einer schwierigen Herzoperation einen Chirurgen aufsucht, wird
auch eine bestens fundierte Kompetenz erwarten und wenig geneigt sein,
auf womöglich spirituell, politisch oder anderweitig
motivierte Herzkritiker zu hören, die alles ganz anders sehen,
allerdings nichts an substantieller, prüfbarer Evidenz
vorzuweisen haben. Sollte nicht in der nicht unmittelbar angewandten
Wissenschaft das Gleiche gelten?
Wenn man sich über die
derzeitigen Forschungsaktivitäten zur Organisation komplexer
biologischer Systeme, das darin vorherrschende geistige Niveau und die
darin angewandten Methoden (s.o.) informiert, wird erkennbar, dass die
moderne Forschung längst in konzeptionellen Gefilden operiert,
bei denen durch althergebrachte, etwa typologische Konzepte, gleich in
welcher Verkleidung, kein substantieller Erkenntnisgewinn zu erwarten
steht; schon gar nicht, wenn diese Konzepte letztlich auf eine
wissenschaftliche Stillstellung abzielen. Dies gilt für
theologisch motivierte nicht anders als beispielsweise für die
eine Zeitlang modernen vitalistischen Ansätze. Insofern wird
in der Tat ein "Streit der Meinungen" vermutlich nicht zustandekommen,
dies allerdings nicht wegen dogmatischer Verhärtung der
Evolutionsbiologie, wie Sie insinuieren, sondern wegen des
Leichtgewichts der anderen Seite (ich jedenfalls kann darin nichts
anderes erkennen).
Auf der Basis dieser
Überlegungungen finde ich es nicht etwa bedauerlich, dass Sie
das Wort dafür ergreifen, dass die genannten
Evolutionskritiker ihre Meinung verbreiten können - im
Gegenteil, sie sollen das selbstverständlich dürfen,
und sie sind nach meiner Wahrnehmung genug von sich überzeugt
und mit genügend Ressourcen versehen, sich das auch nicht
nehmen zu lassen. Bedauerlich und in der Sache völlig
inadäquat allerdings erscheint mir, dass Sie am Ende Ihres
Beitrages in vollem Ernst deren Thesen als potentiell fruchtbaren, aber
ignorierten oder unterdrückten Beitrag zur wissenschaftlichen
Diskussion ausgeben. Das scheint mir so, als ob Sie beispielsweise
theoretischen Elementarteilchenphysikern raten, doch das
Gespräch mit katholischen Neoscholastikern zu suchen und die
aristotelische Formen- und Substanztheorie noch einmal zu bedenken, um
die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Und noch
bedauerlicher finde ich, dass Sie Herrn Kutschera publikumswirksam
denunzieren, denn das Wort "McCarthy" zieht ja immer, vor allem im
politisch-kritischen Ambiente. Haben Sie mit Herrn Kutschera
über seine Beweggründe und Argumente im Detail
gesprochen? Und bauen Sie darauf, dass die vermutlich in ihrer
großen Mehrheit nicht spezifisch vorgebildeten Leser sich auf
der Basis Ihres Beitrags ein fundiertes und vor allem auch faires
Urteil bilden können? Fairness kann ja auch die Ablehnung
eines sachlich unberechtigten Geltungsanspruchs bedeuten, und zwar
exakt aufgrund "wissenschaftlicher Tugend", wie es hier der Fall
ist.
Wenn auch dieser Kommentar
deutlich länger und ausgreifender geworden ist als
beabsichtigt, so hoffe ich doch, meine Einwände gegen Ihren
Beitrag auf diese Weise hinreichend verständlich und in einem
nachvollziehbaren Kontext dargestellt zu haben.
Mit freundlichen
Grüßen
Priv. Doz. Dr. Rudolf A.
Jörres
Experimentelle
Umweltmedizin
Institut und Poliklinik
für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin
Ludwig-Maximilians-Universität
München.
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P.S.
Ich kenne Herrn Kutschera nicht persönlich, werde
ihm aber nachrichtlich eine Kopie dieses Kommentars zukommen
lassen.
© AG
Evolutionsbiologie des VdBiol.
02.07.2008